Goddfrey blieb kaum etwas anderes zu tun als zu grübeln (was waren das für Gedanken in diesen trübseligen Monaten!), und eines Nachts schlief er erschöpft ein und wachte nicht wieder auf. Am dritten Tag war seine Mutter fest davon überzeugt, dass er tot sei.
Sie rief Goddfreys Vater ins Zimmer und sie blieben länger als zehn Minuten bei ihm stehen. »Ich glaube, er ist hinüber«, sagte Mr Gaufridus, und weil der Doktor zu teuer war, wurde der Nachbar gerufen, um den Tod zu bestätigen. Danach bestellten sie das Begräbnis.
Wie es in jener Zeit häufig geschah – und zu Goddfreys Glück –, war der Bestattungsunternehmer alles andere als ehrlich; insgeheim verkaufte er den noch immer reglosen Körper des Jungen an die Schule für Anatomie und Operationsverfahren von Urbs Umida und begrub stattdessen einen mit Sand gefüllten Sarg. Am fünften Tag seines Schlafes erwachte Goddfrey, inzwischen vollständig ausgeruht, auf dem Operationstisch in einem Hörsaal. Ein funkelndes Skalpell schwebte über seinem Kopf, und der Chirurg wollte gerade die Klinge in Goddfreys Brustkorb senken. (Seltsamerweise beeindruckte Goddfrey dabei am meisten das sich in der Klinge spiegelnde Licht, sodass ihm in späteren Jahren bei ähnlichen Lichtreflexen jedes Mal unangenehme Erinnerungen kamen.) Auf diese Weise neu belebt, gelang es ihm, sein ganzes bisschen Kraft zusammenzuraffen und einen leisen Pfiff auszustoßen.
»Ich denke, Eure Leiche ist lebendig!«, rief einer der Zuhörer, ein Medizinstudent, der damit seinen Ruf festigte, das Offensichtliche offensichtlich zu machen. Goddfrey wurde nach Hause zu seinen trauernden Eltern gebracht, die ihn mit offenen Armen begrüßten, obwohl sie nicht recht verstanden, wie er aus dem Grab auf den Operationstisch gekommen war. Das war beileibe nicht die Reise, auf der sie ihn vermutet hatten, doch allzu lange dachten sie nicht darüber nach, und in ein paar Tagen war Goddfrey wieder der Alte.
Nun, nicht ganz. Die merkwürdige Krankheit hatte etwas hinterlassen: Gesichtslähmung. Der arme Goddfrey konnte seine Gesichtsmuskeln nur noch eingeschränkt bewegen, mit dem Resultat, dass sein Ausdruck (schläfrig) immer blieb, wie er war. Er konnte weder lächeln noch die Stirn runzeln, weder lachen noch weinen – zumindest nicht so, dass es auf Anhieb zu erkennen war –, und sprechen konnte er nur durch die Zähne.
Nachdem er im letzten Moment dem Messer des Chirurgen in der Anatomieschule entkommen war, beschloss Goddfrey, dass niemandem passieren sollte, was ihm beinahe passiert wäre. Er ging bei dem örtlichen Bestattungsunternehmer in die Lehre, und als sein Meister starb, übernahm er dessen Betrieb. Im Lauf der nächsten Jahre erlangte Goddfrey Gaufridus den Ruf eines zuverlässigen Mannes, der niemals einen Lebenden beerdigen würde. Das lag hauptsächlich daran, dass er viel Zeit und Mühe darauf verwandte, sich davon zu überzeugen, dass die ihm Überantworteten eindeutig tot waren.
Es klingt vielleicht merkwürdig, aber man darf nicht vergessen, dass es zu Goddfreys Zeit nicht so einfach war festzustellen, ob ein Mensch tatsächlich für immer aus dem Leben geschieden war. Ein Arzt hatte dafür kaum andere Möglichkeiten, als mithilfe eines Spiegels zu prüfen, ob der Betreffende noch atmete, oder auf einen oft unbestimmbaren Herzschlag zu horchen. Während Goddfrey in seiner scheinbaren Bewusstlosigkeit lag, hatte er sich immer wieder mit dem einen Gedanken beschäftigt: Wenn doch nur jemand eine Methode entwickelt hätte, eine Art Gerät, mit dem sich eindeutig bestimmen ließe, ob er lebendig war oder nicht. Viel Leid wäre ihm erspart geblieben. Damals hatte er sich geschworen, dass er, sollte er je wieder ins Leben zurückkehren, dieser Jemand sein würde.
So hatte er seine Bestimmung entdeckt. Doch Beerdigungen zu organisieren und nebenbei Erfindungen zu machen erwies sich als äußerst belastend und Goddfrey fand, dass er einen Gehilfen brauchte, und stellte ein kleines Schild ins Fenster. Da Pin lesen konnte – eine Fähigkeit, die ihm seine Mutter beigebracht hatte –, war er der einzige Bewerber auf die Stelle.
Am vereinbarten Tag führte Mr Gaufridus Pin im Haus herum. Im Laden, der zur Straße hin lag, waren sowohl die teuersten als auch die preiswertesten von Mr Gaufridus’ Sargmodellen ausgestellt. Sie ließen sich durch den mehr oder weniger vorhandenen Glanz des Holzes und der Beschläge ohne Weiteres voneinander unterscheiden. In einem großen doppeltürigen Schrank hielt er eine Auswahl an Sachen vorrätig, die man für die Beerdigung mieten konnte, wie Sargtücher, dunkle Anzüge, Schleier und schwarze Handschuhe, Federbüsche für die Pferde, Einladungskarten zur Trauerfeier und passende Ringe – natürlich in Form von Totenschädeln.
Zuletzt führte Mr Gaufridus Pin in einen Kellerraum, an dessen Wänden weitere Särge in allen möglichen Formen, Größen und Farben sowie in unterschiedlichen Stadien der Fertigstellung lehnten. In der Mitte des Raums stand eine stattliche Werkbank, auf der Hämmer, Nägel, Latten und verschiedene Zimmermannswerkzeuge verstreut lagen. Der Boden war voller Hobelspäne, Holzabfälle und Sägemehl. Die Wände waren bestückt mit einer umfangreichen Auswahl an Messing- und anderen Metallbeschlägen, Scharnieren, Fassungen, Namensschildern, Griffen und allem möglichen, nur vorstellbaren Sargzubehör.
Das alles erschien Pin völlig normal, und als Mr Gaufridus ihn nun in einen anderen Raum führte, erwartete er weitere Dinge dieser Art.
»Da sind wir«, erklärte Goddfrey stolz, während er die Tür öffnete. »Die Cella Moribundi . Warteraum der Toten.«
Pin blieb an der Tür stehen und blickte hinein. Der Begriff einer Cella Moribundi , eines Raums, in dem die Toten vor der Beerdigung aufgebahrt wurden, war ihm und auch allen anderen Bewohnern von Urbs Umida keineswegs fremd. Dass ein Toter vor dem Begräbnis drei Tage und drei Nächte aufgebahrt sein musste, ging auf eine lange Tradition unbekannten Ursprungs zurück. Es gab eine Redensart in Urbs Umida: »Wer zweifelt, soll drei Tage warten.« Pin dachte an den Tod seiner Mutter und an die langen Stunden, die er und sein Vater in der Pension neben ihrer Leiche zugebracht hatten. Sie hatten sich Mr Gaufridus’ Dienste nicht leisten können.
Der Raum war kleiner als die Werkstatt und sehr viel kühler. In der Mitte stand ein hoher Tisch (zurzeit leer), über dem ein merkwürdiger Mechanismus aus Schnüren und Zahnrädern, Hebeln und einer frisch geölten Kette angebracht war. Es gab hier zahlreiche Regale und eine Kommode mit schmalen Schubladen. Auf dieser Kommode lag eine Sammlung von Gerätschaften, die sich nur als Folterinstrumente bezeichnen ließen.
»Was sind denn das für komische Sachen?«, fragte Pin und sah sich staunend um. Diese Cella Moribundi war so ganz anders als alle, von denen er je gehört hatte.
Goddfrey runzelte die Stirn, das heißt, seine linke und seine rechte Augenbraue bewegten sich kaum sichtbar aufeinander zu.
»Diese ›komischen Sachen‹, wie du sie nennst, sind das Ergebnis meiner jahrelangen Arbeit für das Wohl der Lebenden und der Toten.«
Damit war Pin kaum klüger.
»Äh, wie soll …«
»Mein lieber Junge«, sagte Goddfrey durch zusammengebissene Zähne, »stell dir das Schlimmste vor, was du dir ausmalen kannst, und dann stell es dir zehn Mal schlimmer vor.«
Pin überlegte einen Augenblick. »In den Foedus fallen und Wasser schlucken«, sagte er mit einer gewissen Voraussicht.
»Hmm«, murmelte Mr Gaufridus, »das wäre allerdings schlimm, aber kannst du dir nichts Schlimmeres vorstellen?«
Pin konnte – es hing mit Barton Gumbroot zusammen. Er sagte es Mr Gaufridus, aber der fand es immer noch nicht schlimm genug. Schließlich beugte sich der Meister vor und gab in Form einer Frage selbst die Antwort.
»Kannst du dir etwas Schlimmeres vorstellen, Junge, als lebendig begraben zu werden?«
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