Zu ihrem grenzenlosen Entsetzen gab der Revolver nur ein leises Klicken von sich. Nach einer kurzen Pause, drückte sie erneut ab.
Klick.
Und noch einmal.
Klick.
Und wieder.
Klick. Klick. Klick.
Entmutigt ließ sie den Revolver sinken und begann hemmungslos zu weinen.
„Hast du im Ernst geglaubt, dass ich dich mit einer geladenen Waffe alleine lasse? Schon dafür, dass du mich für so dämlich hältst, müsste ich dich auf der Stelle umbringen.“
Langsam ging er auf sie zu.
„Aber du hast Glück. Ich mag dich. Wirklich.“
Durch den Tränenschleier hindurch sah sie nur noch seine verschwommene Silhouette. Sie hörte ein Geräusch. Ein lautes Scheppern. Vermutlich hatte er das Stahlrohr fallenlassen.
Er streckte seine Hand nach ihr aus, berührte ihre Hände. Seine Finger streichelten sie, schlossen sich dann um den Lauf der Waffe.
Widerstandslos ließ sie sich den Revolver wegnehmen.
Ronnie drückte die Trommel heraus und hielt sie ihr direkt vor das Gesicht.
„Siehst du das?“, fragte er leise. „Leer. Keine Patronen.“ Dann erhob er seine Stimme. „Für wie bescheuert hältst du mich?“
Seine linke Hand glitt in die Tasche seiner Jeans und förderte goldglänzende Patronen zutage.
Es war nicht zu übersehen, dass er den Moment in vollen Zügen genoss, in dem er die Patronen, eine nach der anderen, in die Trommel schob.
„Jetzt ist das Baby scharf.“ Er drückte Sandy den Lauf der Waffe mitten auf die Stirn. „Wenn ich jetzt abdrücke, fliegt dein Gehirn bis hinten an die Wand.“
„Bitte. Bitte nicht. Ich tue, was du willst. Und ich werde auch nicht versuchen, abzuhauen. Versprochen.“
„Und wer garantiert mir, dass du mich nicht wieder verarschst?“
„Ich schöre es. Hoch und heilig. Aber bitte nimm die Waffe runter.“
Kid schwieg. Er schien zu überlegen, ob er ihrem Wunsch nachkommen, oder sie doch lieber erschießen sollte.
Schließlich nahm er den Revolver runter. Eine Welle der Erleichterung durchflutete ihren Körper.
„Also gut. In der Tat glaube ich, dass wir noch ziemlich viel Spaß zusammen haben könnten. Und ich habe da auch schon eine Idee. Magst du sie hören?“
Sandy nickte.
„Dir ist doch klar, dass jemand für die Sache mit der Pistole bestraft werden muss, oder?“
Sandy schwieg.
„Das ist dir doch klar, oder?“
Jetzt nickte sie wieder.
„Gut. Dich brauche ich noch eine Weile. Außerdem habe ich meinem Bruder versprochen, dass er auch noch auf seine Kosten kommt. Also müssen wir uns etwas anderes überlegen.“
Sandy wurde übel. Eine böse Ahnung beschlich sie. Eine verdammt böse.
„Den da brauchen wir nicht mehr. Der geht mir schon die ganze Zeit auf die Nerven.“ Er blickte hinunter zu Ronnie und versetzte ihm einen leichten Tritt mir der Schuhspitze.
„Schläft offenbar noch. Schade. Jetzt verpasst er doch glatt seine eigene Party.“
Kid bückte sich und hob die Eisenstange vom Boden auf.
„Los. Da drüber.“ Mit dem Lauf des Revolvers zeigte er zunächst auf Sandy, dann auf Ronnie.
„Aber…“
„Mach einfach, was ich dir sage.“
Mit kleinen Schritten bewegte sie sich an Kid vorbei auf ihren noch immer bewusstlosen Freund zu. Sie musste höllisch aufpassen, wegen der Fußfesseln nicht der Länge nach hinzuschlagen. Zentimeter für Zentimeter schob sie ihre nackten Füße über die rauen Steine. Als sie Ronnie erreicht hatte, sah sie Kid fragend an.
„Dreh ihn um. Auf den Rücken.“
Sandy kniete vor Ronnie nieder. Sein geprügeltes Gesicht war vor kaum wiederzuerkennen. Wieder begann sie zu schluchzen. Wie gerne hätte sie tröstend seine Wange gestreichelt. Doch sie traute sich nicht, sein Gesicht zu berühren. Zu groß war ihre Angst, ihm dabei unnötige Schmerzen zuzufügen.
Und als wollte er ihren Entschluss bestätigen, stöhnte er leise auf, als Sandy ihn behutsam an der Schulter berührte und ihn vorsichtig auf den Rücken drehte. Eine Hand unter seinen Kopf haltend, damit er nicht unsanft auf dem Boden aufschlug.
„Oh Ronnie, mein Liebling. Was hat er dir nur angetan?“
„Psst. Nicht reden. Es ist besser für ihn, wenn du ihn nicht aufweckst. Glaub mir.“
„Was hast du mit ihm vor? Kannst du ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Sieh ihn dir doch an. Er kann nicht mehr.“
„Das hättet ihr zwei euch vorher überlegen müssen. Er, bevor er hier aufgetaucht ist und rumgeschnüffelt hat. Und du, bevor du meintest, mir meine eigene Waffe unter die Nase halten zu müssen. Los, steh auf.“
Sandy tat, was Kid von ihr verlangte.
„Und jetzt?“
Schweigend hielt er ihr das Eisenrohr hin.
KAPITEL 44
Die Warnblinklichter des Geländewagens flackerten kurz auf, als Jonas den Knopf der Zentralverriegelung betätigte.
Nachdenklich trat er durch das Loch im Zaun, um zu Vanessa zurückzukehren. Seine rechte Hand steckte in der Tasche seiner Hose und spielte nervös mit den beiden quadratischen Tütchen, die er aus Vanessas Handtasche geholt hatte. Wie beschrieben, hatten sie sich in einer der Innentaschen befunden.
Aber er hatte noch etwas entdeckt.
Durch Zufall und ohne, dass er auch nur im Geringsten danach gesucht hätte. Es überraschte ihn, wie sehr die Entdeckung seiner Stimmung zusetzte, obwohl er selbst seine Reaktion als völlig unangemessen erachtete.
Doch die Sache ließ ihm einfach keine Ruhe. Gab es eine einfache Erklärung für seine Entdeckung oder hatte sie ihm die ganze Zeit über etwas vorgemacht? Er würde sie darauf ansprechen. Aber erst später. Schließlich hatte sie ihm eine Einladung erteilt, die er unmöglich ausschlagen konnte.
Gedankenverloren schlenderte er durch den verwilderten Schlosspark. Er folgte dem Ufer des Weihers und blickte hinüber zu der Schlossruine. Es war ein phantastisches Gebäude und im Licht des Vollmonds wirkte es noch beeindruckender als am Tage.
Vermutlich, weil man nicht sofort erkennt, wie verfallen und verlassen es ist.
Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er an die Geschichten dachte, die Vanessa ihm zur Vergangenheit des alten Gemäuers erzählt hatte. Wenn nur die Hälfte davon der Wahrheit entsprach…
Er blieb stehen und blickte mit zusammengekniffenen Augen zum Schloss hinüber. Etwas war ihm aufgefallen und hatte ihn stutzig gemacht. Wenn er das Schloss nicht selbst inspiziert hätte und absolut davon überzeugt gewesen wäre, dass es vollkommen verlassen war, dann hätte er schwören können…
Verdammt, er hatte sich nicht getäuscht.
Es war eindeutig. Hinter den Büschen vor der Mauer des Schlosses, am gegenüberliegenden Ufer des Sees, leuchtete etwas.
Sein Herz begann zu klopfen. Waren sie doch nicht alleine? Hatte er Vanessa in der irrigen Annahme, dass sie alleine in dem alten Gemäuer unterwegs waren, völlig wehrlos zurückgelassen?
Für einen kurzen Augenblick überlegte er, sofort zu Vanessa zurückzukehren, entschied sich dann aber dagegen. Zu groß war die Neugier, was hinter seiner Entdeckung steckte. Er verfiel in einen leichten Trab und joggte um das Gewässer herum.
Nach wenigen Minuten hatte er die gegenüberliegende Seite erreicht und schlich zwischen dem Schilf der Uferzone und den vor der Schlossmauer wachsenden Büschen hindurch.
Und dann entdeckte er es.
Er hatte sich wahrhaftig nicht getäuscht.
Ein aus gelblichem Licht bestehender Kranz markierte die Umrisse einer Tür. Ungleichmäßig fiel das Licht durch das Laub der Büsche.
Mein Gott, es gibt tatsächlich einen weiteren Eingang.
Vorsichtig bog Jonas einige Äste beiseite und trat durch das Blattwerk hindurch. Mehrere abgebrochene Zweige bestätigten ihn in seiner Vermutung, nicht der Erste zu sein, der diesen Weg nutzte. Er trat aus dem Busch heraus und fand sich vor einer rostbraunen Metalltür wieder, auf der jemand einen makabren Spruch in gelber Neonfarbe hinterlassen hatte:
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