Für I. & A.
Ihr wisst wofür.
„Das Es duldet keinen Aufschub der Befriedigung. Es steht stets unter dem Druck des unerfüllten Triebes.“
Sigmund Freud
„Oh, wie er es liebte, in solchen Gebäuden auf Entdeckungstour zu gehen. Es war wie auf dem Dachboden seiner Großeltern. Egal, wie oft man dort hinaufstieg – man wusste nie, was man fand.“
Tim Svart
Sommer 1995
PROLOG
Mit ihren gerade einmal sechzehn Jahren hatte Jessica noch keinen einzigen Gedanken ihres zuckersüßen Teenagerlebens an den Tod verschwendet. Aus diesem Grund ahnte sie auch nicht, dass er ihr bereits dicht auf den Fersen war.
Es war ein wunderschöner Morgen im Juli und der Sommer hatte, eine Woche vor Beginn der großen Ferien, bereits vollen Einzug gehalten. Die Uhr zeigte erst kurz nach sechs und die Luft roch noch angenehm klar und frisch. Sie trug ultrakurze, rote Shorts, ein bauchfreies Shirt und weiße Sneakers, als sie zu ihrem allmorgendlichen Jogginglauf aufbrach.
Sie genoss es, am frühen Morgen, bevor die Welt zu hektischem Leben erwachte, für sich alleine ihre Runden zu drehen, wobei sie sich voll und ganz auf ihren eigenen Laufrhythmus konzentrieren konnte und ihre Gedanken schweifen ließ.
Mit jedem einzelnen Atemzug den Duft des Waldes in sich aufsaugend, lief sie, wie schon an den Tagen zuvor, den schmalen Pfad zum See hinunter. Ihr blonder Pferdeschwanz hüpfte bei jeder Bewegung fröhlich auf und ab und die ersten kleinen Schweißperlen, die sich auf ihrer gebräunten Haut bildeten, glänzten wie frische Tautropfen in der Morgensonne.
Einmal mehr würde es ein verdammt heißer Tag werden und mit etwas Glück und dem Einsehen des Schuldirektors, bekämen sie sogar Hitzefrei. Wenn alles nach Plan lief, läge sie schon zur Mittagszeit mit ihren Freundinnen am Seeufer in der Sonne und hatte jede Menge Spaß mit den Jungs aus der Oberstufe.
Das Leben konnte so verdammt leicht und unbeschwert sein.
Dabei war es ihr durchaus bewusst, dass das Leben es bisher ausnahmslos gut mit ihr gemeint hatte und es ihr in vielerlei Hinsicht nicht besonders schwer machte. Sie kam aus gutem Hause, ihr Vater hatte eine eigene Firma und Geld ohne Ende. Außerdem liebte er seine einzige Tochter über alles. Sobald sie ihn nur mit ihren strahlend blauen Augen ansah, las er ihr jeden Wunsch von den denselben ab.
Und sie sah verdammt gut aus. So gut, dass sie den Jungs in der Schule und auf der Straße reihenweise die Köpfe hätte verdrehen können, wenn sie es denn nur gewollt hätte. Doch derartige Spielchen lagen ihr völlig fern. Denn seit zwei Monaten war sie bis über beide Ohren verliebt.
Seit ihrer Geburtstagsparty ging sie mit Tom, dem hübschesten und coolsten Typen der Schule. Er war einfach toll. Er war der Kapitän der Fußballmannschaft und er hatte sogar einen eigenen Wagen. Es war ein Cabrio, mit dem sie während der lauen Sommerabende herumfuhren und an versteckt liegenden, lauschigen Plätzen gemütliche Pausen einlegten oder die Abende kuschelnd im Autokino verbrachten.
Ja, das Leben konnte wahrhaftig verdammt leicht und unbeschwert sein.
Und so hatte sie bis zu diesem Morgen keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, wie schnell es um eben jene Unbeschwertheit geschehen sein konnte.
Ein erster, leiser Zweifel rührte sich in ihr, als sie wenige Meter voraus etwas auf dem unebenen Waldboden bemerkte. Da sie der zu dieser Tageszeit noch recht tief stehenden Sonne entgegenlief, konnte sie es nicht genau erkennen. Sie sah nur, dass dort irgendetwas lag.
Etwas, das dort wahrscheinlich nicht hingehörte, das ihr an den Tagen zuvor nicht aufgefallen war.
Sie verlangsamte ihre Schritte und kniff die Augen zusammen. Nach wenigen Schritten hatte sie die Stelle erreicht.
Und traute ihren Augen nicht.
Auf dem Boden saßen Schmetterlinge.
Wenigstens ein Dutzend der wunderschönen, farbenprächtigen Tiere hatten sich vor ihr auf dem Waldboden versammelt. Aber das eigentlich Faszinierende war die Formation, in der sie sich niedergelassen hatten und die, sie konnte es kaum glauben, ganz eindeutig die Form eines Herzens hatte.
Erst auf den zweiten Blick bemerkte sie, dass mit den Tieren etwas nicht stimmte. Einige wiegten ihre schimmernden Flügel in beruhigendem Rhythmus in der Morgensonne und machten auf Jessica einen ausgesprochen friedlichen Eindruck. Andere Tiere jedoch schlugen sie wild auf und ab, so als versuchten sie vergeblich, ihre federleichten Körper vom Boden in die Luft zu erheben. Wieder andere rührten sich überhaupt nicht.
Sie ging in die Hocke, um die Tiere aus der Nähe zu betrachten. Erst jetzt bemerkte sie, dass die Flügel der meisten Tiere beschädigt waren. Einige hatten Löcher, bei anderen waren an den Rändern größere Teile herausgebrochen. Ihr Blick fiel auf einen Schmetterling, dem der linke Flügel vollständig fehlte.
Sie wunderte sich noch über die seltsame Ansammlung, als sie die Nadeln entdeckte.
Da die Stecknadeln nicht über die sonst typischen, kugelförmigen Köpfe verfügten, waren sie Jessica nicht gleich aufgefallen. Aber nun, da sie sie erst einmal entdeckt hatte, konnte sie gar nicht mehr anders, als sie unentwegt anzustarren.
Jemand hatte jedem einzelnen Tier eine Nadel durch die Körpermitte gebohrt und es damit auf den Waldboden gespießt.
Jemand hatte… Der Gedanke versetzte ihr einen Schock.
Wer um Himmels Willen sollte so etwas tun? Und warum? Angewidert von so viel Grausamkeit wollte sie aufstehen und sich so schnell wie möglich aus dem Staub machen.
Mit einem Mal war ihr dieser vertraute Ort verdammt unheimlich geworden. Was, wenn derjenige, der die Tiere hier platziert hatte, sich noch in der Nähe befand?
Nein, sie wollte einem solchen Menschen auf keinen Fall begegnen.
Schon gar nicht alleine im Wald.
Sie wollte gerade aufstehen, als ihr Blick auf den Briefumschlag fiel: Er lag unter Laub und kleineren Ästen versteckt, genau im Zentrum des Herzens. Sie zog ihn unter den Blättern hervor und betrachtete ihn. Das rosafarbene Papier war nicht beschriftet, aber die Rückseite zeigte die eingestanzten Umrisse eines Schmetterlings.
Mit zitternden Fingern öffnete sie den nicht zugeklebten Umschlag, zog eine ebenfalls in Rosa gehaltene Karte heraus und begann zu lesen:
„Schmetterlinge sind wunderschöne, zarte Geschöpfe. Ihre zerbrechlichen Flügel tragen sie mit ungeheurer Leichtigkeit von einem Ort zum anderen. Und doch sind es sprunghafte, unruhige Geister, die es nie lange an einem Ort aushalten.
Mit Begeisterung schauen wir sie an, ohne dass es uns jemals gestattet wäre, sie zu berühren. Sie wissen um ihre Schönheit und zeigen sich gerne in den schillerndsten Farben. Sie lieben es, unsere Begierde zu wecken. Aber sie wissen auch um ihre Zerbrechlichkeit, sind eitel und fliegen jedem davon, der den Versuch wagt, sich ihnen zu nähern. Möchte man sie berühren, oder auch nur in Ruhe betrachten, muss man sie daran hindern, davonzufliegen. Notfalls mit Gewalt.
Verstehst du, was ich damit sagen möchte?“
Ihr Herz begann heftig zu schlagen und sie spürte die Panik, die sie ergriff, während sie die letzten Worte des geheimnisvollen Briefes las:
„Die Schmetterlinge sind wie du, Jessica.“
In diesem Moment hörte sie unmittelbar hinter sich ein Geräusch.
SIEBZEHN JAHRE SPÄTER...
KAPITEL 1
Wie nahezu jeder Mensch, frönte auch er einer gewissen Leidenschaft.
Einem Hobby, könnte man sagen. Einer Passion. Doch seine Leidenschaft unterschied sich erheblich von denen gewöhnlicher Menschen.
Vor langer Zeit war ihm ein Sprichwort zu Ohren gekommen, das sinngemäß besagte:
Eine Leidenschaft heißt Leidenschaft, weil sie Leiden schafft.
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