Gavin klappt sein Halfter auf, sodass der Griff seiner Fünfundvierziger für alle zu sehen ist, und macht einen Schritt auf den alten Mann zu. »Es tut mir sehr leid, aber ich kann mich nicht daran erinnern, Einwohnern des Altenheims das Wort erteilt zu haben.« Dann deutet er mit ausgestrecktem Zeigefinger auf ihn. »Ich rate dir, Freundchen, deine Schnauze zu halten, ehe du sie für immer hältst.«
Ein jüngerer Mann, der in der gleichen Reihe wie der alte Mann sitzt, springt auf. »Immer mit der Ruhe, Gavin.« Er ist groß gewachsen mit olivfarbenem Teint. Sein Haar ist unter einem Tuch versteckt, und er trägt ein ärmelloses Hemd, das seine muskulösen Bizepse zur Schau stellt. Seine dunklen Augen funkeln. »Das ist kein John-Wayne-Film hier. Reg dich ein bisschen ab.«
Gavin dreht sich langsam zu ihm und richtet den Lauf seiner Waffe auf den Mann. »Halt deine Fresse, Martinez, und park deinen verdammten Arsch wieder auf dem Stuhl.«
Hinter Gavin stellen sich auf einmal seine zwei Nationalgardisten auf und zücken ihre M4-Sturmgewehre. Ihre Blicke streifen durch den Versammlungsraum.
Der Mann namens Martinez schüttelt den Kopf und setzt sich wieder hin.
Gavin stöhnt frustriert auf.
»Ihr scheint den verdammten Ernst der Lage nicht zu verstehen«, fährt er mit militärisch abgehackter Stimme fort, steckt seinen Revolver wieder ins Halfter und geht zurück zum Rednerpult. »Wir sind hier nichts weiter als Lockvögel, leichte Beute, wenn wir uns nicht um die Barrikaden kümmern. Und gleichzeitig gibt es hier einen Haufen Schmarotzer, die den ganzen Tag nichts weiter tun, als herumzuhängen und von anderen zu erwarten, dass sie das Kind schon schaukeln. Keine Disziplin! Euch habe ich etwas zu sagen, denn euer Urlaub hat gerade aufgehört. Von jetzt ab wird es hier anders zugehen. Jetzt weht hier ein anderer Wind! Es gibt neue Regeln. Jeder hilft mit, und wehe, ihr macht nicht genau das, was euch gesagt wird! Wehe dem, der nicht spurt oder aufmüpfig wird! Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt?«
Gavin holt tief Luft, wartet auf die Wirkung seiner Worte und blickt für den Fall, dass jemand es wagt, ihm zu widersprechen, gebieterisch durch den Raum.
Die Menge sitzt auf ihren Plätzen und schaut wie Kinder drein, die gerade vom Rektor eine Standpauke gehalten bekommen. Stevens, der Arzt, steht zusammen mit einer jungen Frau in den Zwanzigern in einer Ecke. Sie trägt einen Kittel, ein Stethoskop hängt ihr um den Hals. Stevens macht den Eindruck, als ob er etwas riechen würde, das schon eine ganze Weile vor sich hin geschimmelt hat. Er hebt die Hand.
Der Major rollt mit den Augen und prustet genervt. »Was denn jetzt schon wieder, Stevens?«
»Berichtigen Sie mich bitte, falls ich mich täusche«, beginnt der Arzt, »aber wir sind schon jetzt nicht besonders gut aufgestellt. Jeder von uns tut, was er kann.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
Der Arzt zuckt mit den Schultern. »Was genau wollen Sie von uns?«
»ICH WILL EUREN GOTTVERDAMMTEN GEHORSAM!«
Das Gebrüll macht so gut wie keinen Eindruck auf Stevens’ intelligente Gesichtszüge. Gavin atmet lange und tief ein und wieder aus, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Stevens schiebt seine Brille hoch, wendet den Blick ab und schüttelt den Kopf. Dann dreht sich der Major zu seinen Männern um und gibt ihnen ein Zeichen.
Die Gardisten nicken dem Major zu und legen den Finger an den Abzug.
Das wird offenbar doch nicht so leicht, wie Gavin es sich vorgestellt hat.
Brian Blake hält sich ganz hinten im Versammlungsraum. Er steht im Schatten eines staubigen, kaputten Verkaufsautomaten, hat die Hände in den Taschen und hört zu. Sein Herz pocht wie wild. Und er hasst sich für diese Tatsache. Er kann das Gefühl nicht abschütteln, eine Laborratte zu sein. Eine lähmende Angst – seine alte Nemesis – ist wieder da und begleitet ihn auf Schritt und Tritt. Das Magazin brennt ihm beinahe ein Loch in die Hosentasche und sticht doch kalt in seinen Schenkel. Seine Kehle ist zusammengeschnürt und trocken, die Zunge viel zu groß für seinen Mund. Was zum Teufel ist nur los mit ihm?
Vorne am Rednerpult beginnt Gavin vor den Gemälden der Stadtväter, die in Schaukästen an der Wand hängen, auf und ab zu marschieren. »Es ist mir völlig egal, wie ihr diese Anhäufung geballter Kacke nennen wollt, in der wir uns befinden. Ich nenne es Krieg … Und damit herrscht über dieses verdammte Kaff das Kriegsrecht.«
Ein unruhiges Raunen erfasst den Saal. Der alte Mann ist der Einzige, der sich traut, das Wort zu erheben. »Und was soll das heißen?«
Gavin geht auf ihn zu. »Das soll heißen, dass jeder hier meinen Befehlen Folge leisten und schön brav sein wird.« Dann tätschelt er dem alten Mann die Glatze, als ob es sich um ein harmloses Haustier handeln würde. »Immer schön gehorchen und genau das machen, was man euch sagt, und dann haben wir sogar den Hauch einer Chance, dies alles zu überstehen.«
Der alte Mann schluckt. Die meisten Leute starren zu Boden. Für Brian ist eines klar: Die Menschen in Woodbury stecken tief in der Klemme. Der Hass in dem Saal liegt so dick in der Luft, dass man sie zerschneiden könnte. Doch die Angst siegt. Sie steigt aus jeder Pore der Anwesenden – einschließlich Brian, der aber hart gegen sie anzukämpfen versucht. Er schluckt den Kloß, der in seinem Hals steckt, hinunter.
Jemand im vorderen Teil des Saales in der Nähe der Fenster meldet sich zu Wort. Brian ist zu weit entfernt, um es zu verstehen, und stellt sich auf die Zehenspitzen, damit er sehen kann, um wen es sich handelt.
»Gibt es etwas, das du uns mitteilen willst, Detroit?«, erkundigt sich der Major gereizt.
Der schwarze Mann mittleren Alters mit seiner fettigen Latzhose und dem grauem Bart sitzt auf einem Stuhl und macht einen unzufriedenen Eindruck. Finster starrt er aus dem Fenster. Seine langen gelbbraunen Finger sind mit Wagenschmiere überzogen. Der einzige Mechaniker vor Ort ist aus dem Norden hergezogen. Er murmelt etwas vor sich hin und beachtet den Major überhaupt nicht.
»Immer raus mit der Sprache, Homeboy.« Der Major kommt mit großen Schritten näher. Als er neben ihm steht, fährt er fort: »Was ist dein Problem? Gefällt dir etwa die Freizeitgestaltung nicht?«
Kaum hörbar erwidert der Schwarze: »Ohne mich.«
Er steht auf und dreht sich zum Ausgang, als der Major plötzlich seine Waffe zieht.
Mit einem beinahe unwillkürlichen Instinkt greift der schwarze Mann mit seiner großen, schwieligen Hand nach dem Revolver in seinem Gürtel. Aber ehe er ziehen kann, hat Gavin die Waffe schon auf ihn gerichtet. »Ach, tu mir doch den Gefallen, Detroit«, knurrt der Major und richtet den Lauf gegen dessen Kopf. »Ich wollte schon immer deinen krausen Schädel in tausend Stücke blasen.«
Die Soldaten reihen sich hinter ihrem Major auf und heben ihre Sturmgewehre. Alle starren sie den schwarzen Mechaniker an.
Mit der Hand am Griff seiner Waffe, den Blick starr auf Gavin gerichtet, murmelt er: »Es ist schon schlimm genug, dass wir die Toten da draußen bekämpfen müssen … Und jetzt kommst du und willst uns auch noch herumschubsen.«
»Setz. Dich. Hin. Sofort.« Gavin drückt den Lauf jetzt fester gegen den Schädel des Mechanikers. »Oder ich werde dich hinrichten. Hier und jetzt.«
Detroit seufzt genervt und nimmt wieder Platz.
Da wendet sich der Major an die restlichen Bewohner. »Das Gleiche gilt für euch! Glaubt ihr, dass ich hier auf Kur bin? Dass ich das aus Jux und Dollerei mache? Das ist hier keine Demokratie, Leute, es geht um Leben und Tod!« Er beginnt wieder, vor den Leuten auf und ab zu marschieren. »Wenn ihr nicht als Hundefutter enden wollt, müsst ihr mir gehorchen. Lasst die Profis ran!«
Die Stille legt sich über den Versammlungsraum wie Giftgas. Ganz hinten spürt Brian, wie sich die Haare in seinem Nacken aufrichten. Sein Herz pocht so heftig in seiner Brust, dass es droht, ein Loch in sein Brustbein zu schlagen. Er bekommt kaum noch Luft. Er will diesem Möchtegernsoldaten den Hals umdrehen, aber sein Körper verkrampft sich, und Brian weiß nicht, ob er flüchten oder sich dem Ganzen stellen soll. Durch seinen Kopf schwirren Fragmente von Erinnerungen, Szenen und Geräuschen eines angstbestimmten Lebens. Schon auf dem Spielplatz der Burke-County-Grundschule musste er kleinen Tyrannen aus dem Weg gehen und schlich immer um den Parkplatz des Supermarkts, um nicht den Schlägern in die Finger zu geraten. Er rannte vor einer Gang beim Kid-Rock-Konzert davon und hoffte stets auf Philips Hilfe … Wo zum Teufel ist Philip, wenn man ihn braucht?
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