Brombeerranken und Dornensträucher reißen an ihren Jacken, als sie auf eine Lichtung zueilen.
Zu ihrer Rechten können sie durch einen Vorhang von Laub die südliche Seite der Baustelle sehen, wo der neue hölzerne Abschnitt der Barrikade errichtet wird. Das Bauholz wartet bereits in ordentlichen Stapeln darauf, verbaut zu werden. Ein Bulldozer steht in der zunehmenden Dunkelheit regungslos da, als Nick auf die Lichtung vor ihnen deutet.
»Da ist er«, flüstert er, als sie direkt vor der Rodung zum Stehen kommen. Er versteckt sich hinter einem Haufen Baumstämme und gleicht dabei beinahe einem hysterischen Jungen, der Cowboy und Indianer spielt. Brian folgt seinem Beispiel. Er kauert sich ebenfalls hinter die Stämme und späht über das Holz hinweg auf die Lichtung.
Keine zwanzig Meter von ihnen entfernt, in einer natürlichen moosbewachsenen Senke, die von einem Baldachin alter Eichen überdacht ist, steht Philip Blake. Auf dem Boden liegt ein Teppich vermoderter Tannennadeln, Pilze und Unkraut. Knapp darüber scheint eine Schicht Methan in einem unheimlichen Magenta zu leuchten. Die Atmosphäre hat beinahe etwas Mystisches an sich. Nick hebt seine Waffe. »Gütiger Herr«, murmelt er leise. »bitte erlöse uns von dem Bösen …«
»Nick, hör auf damit«, flüstert Brian.
»Ich entsage allen meinen Sünden«, fährt Nick fort und starrt auf die entsetzliche Szene, die sich vor ihren Augen abspielt. »Denn sie vergrämen dich, o Herr …«
»Halt’s Maul, halt endlich dein Maul!« Brian versucht etwas zu erkennen. Er kann kaum sehen, was sich da abspielt. Zuerst glaubt er, dass sich Philip mitten auf der Lichtung hingekniet hat und einem Schwein die Läufe festbindet. Seine Jeansjacke ist vorn schweißnass und voller Kletten, und er bindet den Strick um die Gelenke einer sich unter ihm windenden Gestalt.
Dann durchfährt es Brian eiskalt. Jetzt sieht er, dass es sich wirklich um eine junge Frau handelt. Ihre Bluse ist aufgerissen, in ihrem Mund steckt ein Knebel. »Um Gottes willen. Was zum Teufel macht er …«
Nick betet noch immer leise vor sich hin. »Vergib mir, o Herr, für das, was ich tue. Mit der Hilfe Deiner Gnade werde ich Deinen Willen vollstrecken …«
»Halt endlich die Schnauze!«, schnauft Brian von Panik ergriffen, schier außer sich vor böser Vorahnung. Philip will das arme Ding entweder vergewaltigen oder töten, um es Penny zum Fraß vorzuwerfen. Sie müssen etwas tun – und zwar schnell. Nick hat recht. Er hat die ganze Zeit über recht gehabt. Es muss einen Weg geben, dem Ganzen Einhalt zu gebieten. Es muss eine Lösung gefunden werden, ehe …
Plötzlich bewegt sich etwas neben Brian.
Nick stürzt sich über die Baumstämme und rennt geradeaus auf die Lichtung zu.
»Nick! Warte!«, brüllt Brian und schafft es bis zu den Dornensträuchern, als er die Szene, die sich in der schattigen Lichtung vor ihm abspielt, wie ein Bühnenstück surrealer Figuren wahrnimmt. Es scheint alles in Zeitlupe vor seinen Augen zu passieren.
Nick stolpert über die Rodung, das Gewehr auf Philip gerichtet. Dieser, von Nicks plötzlichem Auftauchen und Brians Warnruf überrascht, rappelt sich hoch. Unbewaffnet blinzelt er nervös von der auf dem Boden liegenden Frau zu der Tasche neben den Fliegenpilzen zu ihrer Linken. Philip hebt die Hände. »Runter mit der Waffe, Nicky.«
Nick aber hebt sie weiter, bis der Lauf auf Philips Gesicht gerichtet ist. »Der Satan steckt in dir, Philip. Du hast gegen Gott gesündigt … Seinen Namen geschändet und entweiht. Jetzt ist es in den Händen Gottes, dich zu richten.«
Brian taumelt auf die Lichtung und fummelt nach der Pistole in seinem Gürtel. Er bekommt vor Adrenalin, das durch seine Adern schießt, kaum noch Luft. »Nick, nein! NICK, TU ES NICHT!« Brians Gedanken rasen, als er drei Meter hinter Nick zum Stehen kommt.
Mittlerweile hat es die junge Frau auf dem Boden geschafft, sich umzudrehen – sie ist noch immer gefesselt und geknebelt. Ihre Tränen rinnen in den feuchten Boden, als ob sie sich danach sehnen würde, dass er sich auftun und sie verschlingen und töten würde, während Nick und Philip keine zwei Meter voneinander entfernt stehen und sich anstarren.
»Was soll das werden? Bist du jetzt der Racheengel oder was?«, fragt Philip seinen langjährigen Freund.
»Vielleicht, Philip, vielleicht.«
»Das hier geht dich nichts an, Nicky.«
Nick zittert vor Emotionen. Er muss wiederholt blinzeln, damit ihm die Tränen nicht die Wangen herunterlaufen. »Es gibt einen besseren Ort für dich und deine Tochter, Philly.«
Philip steht wie versteinert da, und sein eingefallenes Gesicht sieht in dem schwächer werdenden Licht geradezu grotesk aus. »Darf ich annehmen, dass du es sein wirst, der Penny und mich erlöst?«
»Irgendjemand muss diesem Wahnsinn Einhalt gebieten, Philly. Warum nicht ich?« Nick hebt den Lauf weiter, bis Kimme und Korn auf Philip zielen. »Herr, bitte vergib mir …«
»Nick, warte! Bitte, bitte! Hör mir zu!« Brian umkreist Nick und hält dabei seine Achtunddreißiger in die Luft. Er kommt wenige Zentimeter vor Nick zum Stehen, der den Lauf noch immer auf Philips Gesicht gerichtet hat. Brian redet weiter. »Die ganzen Jahre, die ihr in Waynesboro wart, die vielen Male, die ihr zusammen gelacht habt, die ganzen Meilen, die wir gemeinsam hinter uns gebracht haben – zählt das alles nichts mehr? Philip hat uns das Leben gerettet! Die Sache hier ist aus dem Ruder gelaufen, klar. Aber das kriegen wir schon wieder ins Lot. Runter mit der Waffe, Nick. Komm schon, ich flehe dich an.«
Nick beginnt zu zittern, hält die Waffe aber immer noch auf Philip gerichtet. Schweißtropfen treten auf seine Stirn.
Philip tritt einen Schritt auf ihn zu. »Mach dir nichts draus, Brian. Unser Nick hier ist schon immer etwas geschwätzig gewesen. Der hat es einfach nicht in sich, auf jemanden zu schießen, der noch am Leben ist.«
Nick zittert jetzt wie Espenlaub.
Brian sieht den beiden Freunden zu und ist vor Unentschlossenheit wie gelähmt.
Philip greift in aller Ruhe nach der Frau, packt sie am Genick, zieht sie vom Boden hoch wie ein Gepäckstück, dreht sich um und zerrt das sich windende Geschöpf bis an den Rand der Lichtung.
Nicks Stimme ist jetzt tiefer als zuvor. »Herr, sei uns gnädig.«
Plötzlich lädt er die Waffe durch.
Und drückt ab.
Eine Schrotflinte mit einer 12-mm-Bohrung ist ein kompromissloses Instrument. Die tödlichen Schrotkügelchen Kaliber dreiunddreißig können sich über eine kurze Distanz über mehr als dreißig Zentimeter ausbreiten und treffen ihr Ziel mit genügend Wucht, um einen Porenbetonstein in seine Bestandteile explodieren zu lassen.
Das grobe Schrot, das in Philips Rücken dringt, schießt erst durch das Fleisch seines Schulterblatts, ehe er die Bänder seines Genicks zerreißt. Das Schrot hat auch den Kopf der Frau erwischt und sie im Handumdrehen getötet. Die beiden wirbeln in einem purpurnen Nebel durch die Luft.
Sie landen Seite an Seite auf der Lichtung, alle viere von sich gestreckt. Die junge Frau ist bereits tot und bewegt sich nicht mehr, während Philip die letzten quälenden Sekunden von den Zuckungen eines heftigen Todeskampfes heimgesucht wird. Auf seinem Gesicht ist die völlige Überraschung zu sehen, die er empfindet. Er versucht zu atmen, doch sein Gehirn ist bereits dabei, sämtliche Körperfunktionen abzuschalten.
Der Schock über das, was soeben passiert ist, zwingt Nick Parsons in die Knie. Sein Finger ist noch am Abzug, und die Schrotflinte in seiner Hand qualmt von der Hitze der Explosion.
Er kann nichts anderes mehr sehen als das, was er den beiden Menschen vor sich angetan hat. Bestürzt lässt er die Schrotflinte zu Boden fallen, und obwohl sich sein Mund unentwegt bewegt, kommt kein Ton heraus. Was hat er getan? Er spürt, wie sich sein Inneres zusammenzieht – wie eine Samenschote, kalt und verlassen. Das Armageddon-Dröhnen hallt in seinen Ohren wider, die heißen Tränen der Scham fließen jetzt in Strömen über sein Gesicht. Was hat er getan? Was hat er verbrochen? Welche Schuld hat er nur auf sich geladen?
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