Ich dachte: Sicher, wenn jemand verdammt noch mal im Atlantik ersoffen ist. Mich beschlich das starke Gefühl, dass er mehr sich selbst als mich überzeugen wollte. »Und was hältst du von dem Kinderzimmer, das ich im Keller gefunden habe? Etwas so Schauerliches habe ich noch nie gesehen.«
»Klar.« Er ließ sich nicht festnageln. Irgendwo im Laufe der Unterhaltung hatte ich ihn verloren.
»Vergessen wir den Raum für eine Sekunde. Veronica Dentman ließ das ganze Zeug absichtlich zurück, sorgfältig zusammengepackt und versteckt, wie ein schmutziges Geheimnis.«
»Auch nichts Besonderes«, antwortete Adam.
»Kinderbücher, Baseballsachen, Wollhand- und Turnschuhe, Klamotten, Spielzeug …«
»Jeder versucht, mit dem Tod auf seine eigene Weise zurechtzukommen. Veronica Dentman gelang es vermutlich nur so – indem sie schnell wegzog, ohne etwas mitzunehmen.«
»Mir kommt es bloß ein bisschen kalt und unsensibel vor. Absonderlich.«
Adam stöhnte. »Mal an Mom und Dad gedacht?«
Ich nahm einen Schluck Bier und fragte zurück: »Was ist mit ihnen? Sie machten diese Phase nach Kyles Tod durch, löschten aber nicht jede Erinnerung an ihn aus. Im Haus hingen weiterhin Fotos von ihm, und einige seiner Sachen lagen ebenfalls noch herum. Es dauerte fast ein Jahr, bis sie sein Schlafzimmer leer räumten, um Himmels willen.« Der Gedanke daran ließ die Eindrücke zum wiederholten Mal aus der Versenkung aufsteigen: Matchbox-Autos unter Kyles Bett nach der Beerdigung. Ich zwinkerte nervös und musste mich räuspern, ehe ich wieder trinken konnte.
»Genau das meine ich«, betonte Adam. »Jeder geht damit auf seine Art um. Mom und Dad setzten sich auf ihre eigene Weise damit auseinander. Scheiße, vielleicht bin ich aus einem unterbewussten Wunsch Bulle geworden, denjenigen zu helfen, die es nicht selbst können.«
Ich merkte, wie er mich anschaute, wollte den Blick aber nicht erwidern. Immer noch dachte ich an die Spielautos, und weil ich irgendwo hinsehen musste, konzentrierte ich mich auf mein Bier.
»Du hast ein paar Bücher über ihn geschrieben«, fügte er hinzu.
»Ein Buch«, sagte ich. »Nur ein Buch« Und außerdem hat es Alexander Sharpe geschrieben und nicht ich.
Im Wandspiegel hinter der Theke sah ich, dass Adam grinste. Dann drückte er meine Schulter, woraufhin mir die Luft wegblieb. Ich kam mir vor wie ein Akkordeon. »Brüderchen, vergib mir, wenn ich dich darauf stoßen muss, aber du hast vier Romane geschrieben, in denen stets jemand ertrinkt beziehungsweise nur knapp dem Tod entgeht, nachdem etwas aus einem See gestiegen ist. Willst du mir weismachen, du seist dem gegenüber, was du die ganze Zeit geschrieben hast, blind gewesen?«
Seine Worte erschütterten mich bis ins Mark. Nicht im Entferntesten hatte ich es jemals so betrachtet. Aus seinem Munde klang es umso wahrer, und schlagartig sah ich es ein, als sei es vom Horizont her über mich hereingebrochen. Selbst die verfluchten Titel stellten ein einheitliches Motiv in Aussicht, das mir bis zu diesem Augenblick entgangen war: The Ocean Serene, Silent River, Drowning Pool und Waterview. Ganz zu schweigen von dem Namen auf dem Deckblatt des Manuskriptes, das ich Holly vor unserer Abreise nach London geschickt hatte – Blood Lake .
Fuck, war es wirklich so offensichtlich für die anderen? War ich wirklich so blind? Ich biss auf meine Unterlippe und weigerte mich, Adam den Titel meines jüngsten Projektes zu nennen, der noch grob umrissenen Geschichte über Elijah Dentman und die gestörte Familie, die vor mir in unserem Haus gelebt hatte: Floating Staircase – Die Treppe im See .
»Du behauptest also, wegen dem, was Kyle passiert ist, Polizist geworden zu sein?« Ich wollte unbedingt das Thema wechseln. Dabei zitterte meine Stimme ein wenig, doch ich glaubte nicht, dass mein Bruder, der die doppelte Menge getrunken hatte, es bemerkte.
Er schob eine seiner breiten Schultern zurück. »Vielleicht. Ich bin mir nicht sicher. Na ja, es würde mich doch wundern, hätte Kyles Tod nicht irgendetwas damit zu tun. Dann könnten wir auch behaupten, nichts von alledem, was um uns geschieht, hätte überhaupt eine Auswirkung auf unser Leben.«
Ich hätte ihn gern gefragt, ob er je schweißgebadet aufwachte und nach Luft schnappte, während er glaubte, eine Geisterhand schleife ihn in ein nasses Grab. Hatte er schon einmal mitten in der Nacht aufrecht im Bett gesessen, weil Schritte auf dem Flur – Schritte, die sofort verklangen, sobald man den Atem anhielt und sich auf sie konzentrierte, wartete und wartete – an sein Ohr gedrungen waren? Das waren alles die Dinge, die mich als Kind geplagt hatten … und seit Kurzem wieder taten, mich wie ein alter Fluch heimsuchten. Ich fragte mich, welche Mächte in unserem neuen Haus zugange waren. Welcher Fluch lastete auf diesen Mauern?
Die Vorstellung jagte mir eine Heidenangst ein.
»Wie dem auch sei«, fuhr Adam fort. »Vom Standpunkt eines professionellen Ermittlers aus – und ein solcher zu sein, maße ich mir durchaus an – ziehst du wohl allzu voreilige Schlüsse aus dem Zimmer, das du in eurem Keller gefunden hast.«
»Aha. Welche Schlüsse sollen das sein?«
»Zuallererst nimmst du an, es gehöre Elijah, nur weil sein Bett und all die Sachen drinstehen.«
»Und das ist falsch?«
»Es ist eine Möglichkeit, aber deshalb ist es noch lange keine Tatsache. Du musst alles andere ausschließen können, bevor du einen Strich darunter ziehst. So könnten Veronica und David Dentman, der Onkel des Kindes, das Zeug etwa nach dem Unfall in den Keller geschafft haben, genauso wie Kyles Sachen in der Garage verwahrt worden waren.« Er fuhr mit dem Daumen über die Kante seines Bierglases. »Und euer Haus hat keine Garage.«
»Shit«, fluchte ich. Zum zweiten Mal in weniger als fünf Minuten hebelte Adam meine Auffassung von Wirklichkeit aus den Angeln. Dabei war der Bastard noch betrunkener als ich. »Schätze, da ist was dran. Von dieser Warte aus habe ich es noch gar nicht betrachtet.« Das Kribbeln in meinem Bauch flaute rapide ab. Die Begeisterung, mit der ich über die fiktiven Dentmans geschrieben hatte, schien zu verebben oder zusammenzuschrumpfen, und ich befürchtete, der Nebel der Schreibblockade ziehe erneut auf und hülle mein Konstrukt ein.
»Trotzdem …« Adams Stimme verklang.
»Was?«
»Nun«, hob er an und versuchte – so zumindest fasste ich es auf –, sich seines angeschlagenen Zustandes zum Trotz vorsichtig fortzutasten. »Selbst wenn es sich nicht um das Zimmer des Jungen handelt, bleibt eine Frage offen.«
»Und die wäre?«
»Wozu diente der Verschlag?«
Das musste ich zunächst auf mich wirken lassen, Adam offenbar auch, denn er schwieg mehrere Sekunden lang.
»Leute«, unterbrach Tooey im Vorbeigehen am Tresen. Er zwinkerte uns verstohlen zu. »Alles klar bei euch?«
Ich hob eine Hand. »Bestens, danke.«
Hinter uns fütterte jemand die Jukebox für Johnny Cash.
»Ich muss dir etwas gestehen«, sagte ich schließlich nach einer zu langen Schweigeperiode. Ich erzählte Adam davon, wie ich meine alten Aufzeichnungen weggeworfen hatte, die frühen Ergüsse zu Kyles Tod aus der Zeit kurz nach unserem Umzug nach London. »Damals begriff ich es nicht so recht, aber jetzt glaube ich, klickt es allmählich.« Ich wartete auf Adams Antwort; wenigstens hätte er fragen können, was mich schlussendlich zu diesem neuen Bewusstsein gebracht hatte, doch er sagte kein Wort. Also räusperte ich mich einmal mehr und fuhr fort: »Es lag daran, dass ich mich nach Mutters Beerdigung und unserem Streit elend fühlte. Ich habe mich schäbig benommen und war weder dir noch Beth gegenüber sonderlich fair, geschweige denn, dass ich Jodie damit einen Gefallen getan hätte.«
Er starrte wieder beharrlich auf sein Bier. »Oder dir selbst, nicht wahr?«
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