»Hi«, grüßte ich. »Ich würde gern die Archive der Lokalzeitung sichten.«
»Sie meinen die von Westlake, also The Muledeer? «
»Ja, das städtische Blatt«, sagte ich und dachte, wie gut der Name Maultierhirsch zu einer Gegend wie dieser passte.
»Wie viele Jahre zurück soll es denn gehen? Falls es sich auf etwa zwei beläuft, befinden sich die Kopien der Ausgaben im Lagerraum. Was darüber hinausgeht, liegt als Microfiche vor.« Im entschuldigenden Ton fügte sie hinzu: »Ich weiß, dieses System ist ein wenig veraltet, selbst hier draußen am Steißbein des Teufels, aber die Bibliothek kam bislang nicht dazu, alle Daten auf Festplatte zu transferieren.«
»Nicht schlimm«, beschwichtigte ich.
Obwohl niemand zugegen war, der uns hätte belauschen können, beugte sie sich über den Tisch und wisperte verschwörerisch: »Um ehrlich zu sein, mag ich keine Computer. Ich traue den Dingern nicht; zu viele Tasten, und zu viel, was schiefgehen kann. So oder so bin ich eine alte Frau und werde in diesem Leben weder Tango noch Two-step lernen, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Sie grinste, wobei ihre gepuderten Wangen erröteten. »Um Gottes willen, ich höre mich bestimmt wie ein perfekter paranoider Schwachkopf an.«
»Überhaupt nicht«, erwiderte ich. »Ich selbst schreibe auch nach wie vor alles von Hand. Außerdem glaube ich nicht, dass ich auf Microfiche zurückgreifen muss, weil ich etwas aus dem letzten Sommer suche.«
»Na dann«, antwortete sie, »brauchen Sie das Einhorn.«
Ich blinzelte. »Das was?«
Die Bibliothekarin kramte in einem Schuhkarton herum, den sie unterm Tisch hervorgezogen hatte, und reichte mir ein Schlüsselbund, an dessen Kette ein Gummieinhorn baumelte. Die Farbe war verblasst, und am Hintern schien etwas Bissspuren hinterlassen zu haben. Der kleine Anhänger hätte durchaus hundert Jahre alt sein können.
»Hier entlang.« Ich folgte der Frau, nachdem ich um den Schreibtisch gegangen war, durch ein Labyrinth aus Bücherregalen. »Gott weiß, warum Vicky darauf besteht, die Tür abzusperren. Ich jedenfalls kann mir nicht vorstellen, weshalb jemand einbrechen und all unsere Zeitungen stehlen sollte.«
»Was meinten Sie vorher damit, von wegen Steißbein des Teufels?«
»Steißbein des Teufels«, wiederholte sie. »Den Ausdruck hat meine Mutter geprägt. Er bezieht sich auf mitten im Nirgendwo, also einen Ort wie Westlake.«
»Ich mag die Vorstellung.«
»Oh, verstehen Sie mich nicht falsch«, entgegnete sie. »Die Stadt ist wirklich wunderschön.«
Ich meinte eigentlich die Formulierung ihrer Mutter, verkniff mir aber eine weitere Erklärung.
Letztlich erreichten wir eine unauffällige Tür im hinteren Bereich der Räumlichkeiten. An der Tür klebte ein bekanntes Motivationsposter, das Bild einer struppig gelbbraunen Katze. Darunter stand seltsam falsch geschrieben: Hang in Their!
Die Bibliothekarin wählte den passenden Schlüssel und sperrte auf, beugte sich hinein und schaltete das Licht an. Der Raum war nicht größer als eine Toilette. An einer Wand standen Regale, die unter dem Gewicht gestapelter Zeitungen einzubrechen drohten. Ferner war Platz für einen Tisch mit Stuhl sowie einen gelben Katalog, der an einem Haken am Raugips hing.
»Das ist der Index«, bedeutete die Frau, indem sie mir die Schlüssel überließ. »Sie können auch die Toiletten aufschließen. Vicky glaubt wohl, auch dort fände jemand etwas zum Stehlen. Möchten Sie Kaffee?«
»Nein, danke.«
»Also, melden Sie sich einfach, wenn Sie etwas brauchen. Ich heiße Sheila.«
»Danke, Sheila.«
Nachdem sie verschwunden war, trat ich ein und machte die Tür zu. Die Luft war abgestanden und stank logischerweise intensiv modrig nach altem Papier. Ich nahm den Katalog vom Haken und fing zu blättern an. Es brauchte eine gute Minute, oder zwei, bis ich das Archivierungssystem durchblickt hatte, doch dann fiel es mir umso leichter, konkrete Daten zu finden.
The Muledeer war eine Wochenzeitung, und keine Ausgabe dicker als die Speisekarte eines Highway-Restaurants. Außer dass es letzten Sommer passiert war, wusste ich nicht, wann genau Elijah Dentman den Tod gefunden hatte, also begann ich in der ersten Juniwoche und arbeitete mich Seite pro Seite durch. Weil die Artikel sehr knapp gehalten waren, glaubte ich nicht, dass es allzu lange dauern würde, bis ich es fand, zumal etwas so Unerhörtes wie der Tod eines Jungen aus der Gegend gewiss eine Titelstory abgeworfen hatte.
Alles in allem passierte kaum Aufregendes in Westlake, Maryland. Alltägliches prägte den Inhalt, Berichte von örtlichen Talentshows, Werbung für lokale Betriebe und die üblichen Todesanzeigen, wenn ein älterer Mitbürger zum auf ewig begleiteten Wohnen in den Himmel entstiegen war. Obwohl die Artikel wenig Wissenswertes vermittelten, gestatteten sie einen erhellenden Einblick in das Herz und der Seele die Kleinstadt, die ich nun meine Heimat nannte.
Endlich fand ich es; die Schlagzeile sprang mich geradezu an:
JUNGE ERTRINKT IM SEE
Eine frostige Woge floss durch meinen Körper. Dass es der Wirklichkeit entsprach, lähmte mich. Ich atmete nicht, dessen war ich mir bewusst, konnte allerdings nichts dagegen unternehmen.
Direkt links unter der Zeile war ein Schulfoto von Elijah Dentman abgedruckt. Seine Haut schimmerte so hell wie das Haar. Er hatte ein rundes Gesicht und zusammengekniffene Augen, doch darauf belief sich die Ähnlichkeit zu Kyle. Sein Erscheinungsbild deutete eine gewisse Trägheit oder Unterentwicklung an. Der Schnappschuss musste in einem Supermarkt entstanden sein, typisch mit falscher Holzvertäfelung im Hintergrund, und wirkte so schlicht wie alltäglich. Trotzdem wäre ich, als ich dem Jungen in die Augen schaute, am liebsten zusammen- und in Tränen ausgebrochen.
Laut David Dentman, dem Onkel des Jungen, war er nachmittags zum Schwimmen an den See gegangen und wollte auf dem Treppengestell spielen, während David ihn vom Wohnzimmerfenster aus im Auge behalten hatte und seine Mutter im Obergeschoss schlief. Bei Einbruch der Dunkelheit hatte David hinausgesehen und Elijah nicht entdeckt, weshalb er rufend zum See geeilt und ins Wasser gewatet war, ohne aber eine Antwort zu erhalten. Als er allem Anschein nach Blut auf einer der Holzstufen gesehen hatte, war er verständlicherweise in Panik geraten und zurück zum Haus gelaufen, um die Polizei zu rufen.
Die Cops suchten den See und die anliegenden Waldstücke flüchtig ab. Sie verhörten auch die Nachbarn und es wurde Nancy Stein zitiert, die David Dentmans Aussage bestätigte: Sie war mit dem Hund spazieren gegangen und hatte Elijah auf der Holztreppe im Wasser beim Spielen gesehen. Später am Nachmittag sei ihr dann ein spitzer Schrei von dorther aufgefallen, bei dem Nancy Stein sich erst später etwas gedacht habe, wie sie behauptete …
Nachdem ich den Bericht durchgelesen hatte, kam es mir vor, als hätte mich jemand wiederholt in den Magen geboxt. Es gab einen wichtigen Aspekt des Vorfalls, den mir Adam nach der Party bei sich zu Hause nicht geschildert hatte: Elijahs Leichnam blieb seitdem verschollen. Selbst die Taucheinheit des Westlake Police Departments hatte ihn nicht gefunden. Dem Polizeichef zufolge befand sich das Wasser des Sees während der Sommermonate auf dem Höchststand, und der anhaltende Regen der vergangenen Monate hatte den Grund aufgewühlt, was die Sicht unter Wasser erschwerte. Man durchkämmte das Gewässer noch den ganzen Abend lang, stieß aber nicht auf die Leiche. Sie haben den Jungen nie gefunden.
Das letzte Wort zum Thema las man auf dem Titel der darauffolgenden Ausgabe: Die Polizei ging davon aus, Elijah sei abgerutscht und habe sich den Kopf am Holz aufgeschlagen, das Bewusstsein verloren und schlussendlich den Tod gefunden – er war ertrunken. Die DNA-Tests hatten ergeben, das Blut auf den Treppen war das von Elijah. Den Schrei, den Nancy Stein vernommen hatte, stammte vermutlich von Elijah, als er die Treppen hinabfiel, bevor er mit dem Kopf aufgeschlagen war. Und genau so wurde der Fall abgeschlossen.
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