Gegen Mittag hatte ich den Handabdruck dreimal gemustert. Er war abgesehen davon, dass er bei Tageslicht weniger schauerlich wirkte, unverändert geblieben. Tatsächlich glaubte ich gegen halb eins, dass Jodie vielleicht doch recht hatte: Der Fleck war vielleicht schon immer da gewesen. Der offene Farbeimer? Es schien nicht unwahrscheinlich, dass ich ihn dort vergessen und nicht unter die Treppe gestellt hatte, wie ich glaubte. Immerhin gehörte die Hand einem Kind, und wir hatten keins.
Ich rang mich zum Aufräumen des Zimmers durch, das unser Büro werden sollte. Immer noch stapelten sich Kisten darin, manche sogar bis an die Decke. Ich hob eine an und fiel beinahe rückwärts, weil sie so gut wie nichts wog. Sie war leer. Während ich sie zusammen mit ein paar anderen hinaus zur Abfalltonne trug, trommelte ich mit den Fingern gegen die Pappe.
Auf einmal fügten sich gewisse Puzzleteile in meinem trägen Geist zusammen, da wusste ich, was mir im Zusammenhang mit der Hand am Gips im Keller entgangen war. Komischerweise hatte es aber nichts mit dem Abdruck selbst zu tun, sondern allein mit der Wand. Wie ich mit den Fingern gegen den Karton klopfte, klang es genauso wie in der Nacht zuvor, als ich es am Trockengips getan hatte.
Hohl.
Ich kehrte in den Keller zurück und klopfte die Wand mit den Fingerknöcheln ab. Natürlich klang sie hohl, als befände sich nichts dahinter. Ich bewegte mich an ihr entlang, ohne mit dem Pochen aufzuhören, bis ich einen Unterschied wahrnahm, wo die Trockenwand unmittelbar über dem Betonschalstein oder irgendwelchen Balken befestigt worden war.
Neugierde und ein rechter Gefühlsaufruhr trieben mich dazu an, alles vor der hohlen Wand aus dem Weg zu räumen, bis der ganze Bereich freigelegt war. Während ich die Fugen der Gipsplatte ertastete, die man nicht überklebt hatte, jonglierte ich Quadratmaße im Kopf: Der Keller besaß eine kleinere Grundfläche als das Erdgeschoss, aber erklären konnte ich mir dies nicht. An und für sich hätten beide Maße ungefähr übereinstimmen müssen. Das bedeutete doch nicht etwa –
Als ich die Fuge zwischen zwei Trockenwänden hinunterfuhr, fiel mir eine geringfügige Delle auf. Ich betrachtete sie genauer, indem ich sozusagen die Nase gegen den Gips drückte. Es war ein Scharnier. Etwas weiter unterhalb befand sich ein zweites … und kurz vor dem Boden ein drittes.
Das war mit Sicherheit keine Wand.
Es war eine Tür.
Allerdings fehlte ein Knauf, Griff oder sonst etwas, mit dem man sie öffnen konnte. An der Fuge auf der anderen Seite versuchte ich, die Finger zwischen die beiden Platten zu klemmen, um die Tür aufzuziehen, aber es war unmöglich. Wahrscheinlich war sie schon seit Langem versiegelt worden.
Eine Tür wohin? Einen weiteren Raum?
Ich hatte keinen blassen Schimmer.
Dann hörte ich die Stimme meines Therapeuten wieder: Es ist ein Kommen und Gehen . Die Wandschränke, in denen wir in London Nahrungsmittel verstaut hatten, fielen mir ebenfalls wieder ein, ihre Klapptüren mit Magnetverschluss.
Es ist ein Kommen und Gehen .
Ich legte eine flache Hand an die vermeintliche Wand und drückte vorsichtig dagegen. Ich fühlte sie etwas nachgeben … dann löste sie sich von der anderen Platte, wobei die Scharniere quietschten. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit, ein senkrechter Spalt in die Dunkelheit.
Erst als ich sie weiter aufmachen wollte, bemerkte ich, wie aufgebracht ich war, denn meine Hand zitterte heftig. Ein leises, kurzes Lachen entrann meiner Kehle.
Ich öffnete die Tür.
Als Jodie und ich das Haus in der Waterview Court bezogen, hatte ich bereits vier Bücher veröffentlicht, die sich entweder mit dem Übernatürlichen befassten oder dem Horrorgenre zuzuordnen waren. Ich handelte mit Spuk, Geistern und garstigen Wesen mit noch garstigeren Absichten. Als ich nun vor der offenen Tür in der Kellerwand stand, wurde mir bewusst, wie viele solcher Szenen ich bereits beschrieben hatte. Meinen Charakteren ließ ich seit jeher eine gewisse Beklemmung und Furcht angedeihen, wann immer sie kurz vor einer unwägbaren Entdeckung standen.
Jedoch hatte ich keinerlei Furcht, wie es im Gegensatz die meisten Charaktere in meiner Vergangenheit hatten. Ich war cool, eine fast erfrischende Zufriedenheit umgab mich, als hätte ich gerade die letzte Lücke eines ungewohnt verzwickten Kreuzworträtsels geschlossen.
Deshalb war mein erster Gedanke beim Öffnen der Tür: Scheiße, ich habe alles falsch gemacht.
Der Raum hinter der Tür war eng und fensterlos. Dunkle gewölbte Formen deuteten ein regelmäßiges Muster an, aber ohne Beleuchtung konnte ich nicht ausmachen, worum es sich handelte. Ich wollte mehr Licht hineinlassen, indem ich die Wand weiter aufmachte, aber die einzelne Birne mitten an der Kellerdecke war nicht stark genug. Ich tastete auf gut Glück an die Innenseite der Wand und fand überraschenderweise tatsächlich einen Lichtschalter. Ich knipste ihn an und musste daraufhin mehrere Sekunden lang sacken lassen, was ich sah.
Es war ein Kinderzimmer … oder zumindest andeutungsweise . In eine Ecke passte gerade eben ein kleines Bett, auf dessen Matratze ein Berg kleiner, bunter Kleidungsstücke lag. Auf einem schmalen Schreibtisch an einer Wand stand eine Leselampe mit Cowboy-und-Indianer-Motiv auf dem Schirm, und anderswo stand ein Bücherregal, vollgepackt mit Kinderbüchern und Spielzeug aller Art. Platz am Tisch nahm man auf einem Plastikstuhl in Form einer übergroßen, wie zum Schöpfen hohlen Hand, und am Fuß des Bettes quoll eine Box vor Plüschtieren über. Decke und hintere Wand aus nacktem Betonstein ohne Putz waren mit Sternen und Halbmonden beklebt, die im Dunkeln leuchteten. Die Pappkartons, die sich in der Mitte des Raumes stapelten, ähnelten jenen, die wir zum Umzug benutzt hatten, aufs Haar; sie beschrieben das Formmuster, das ich zuerst erkannt hatte.
Es wirkte wie ein Museumsschaukasten, die Rekonstruktion eines Kinderzimmers von 1958, wie etwas hinter Glas mit einem Messingschild auf dem steht: Rekonstruktion des Kinderzimmers eines Amerikanischen Jungen.
Ich trat in der festen Annahme ein, damit ein Heiligtum zu entweihen, bekam jedoch allenthalben ein unterschwelliges Schwindelgefühl. Abgesehen von einem schmutzigen Vorleger halb unter dem Bett blieb der Boden unbedeckt, weshalb meine Schritte auf dem Beton trotz der Enge des Raumes widerhallten. Ich untersuchte das Spielzeug auf den Regalen und die zusammengelegte Kleidung auf dem Bett, dann hob ich den Deckel der Box mit dem großen Zeh hoch – ich hatte meine Turnschuhe an – und blickte in die Augen ausgestopfter Bären, Schweinchen, Affen und weiterer schwer zu identifizierender Geschöpfe. Sie kamen mir wie Ertrinkende in einem Brunnenschacht vor.
Zuletzt ging ich zweimal um den Stapel Kartons in der Mitte des Zimmers. Der Karton wirkte alt, was der vereinzelte schwarze Schimmel darauf bestätigte. Als ich die obere Kiste aufklappte, sah ich noch mehr bunte Kinderkleidung wie auf dem Bett. Ein gestreiftes Poloshirt zog ich heraus; es war praktisch neu. Nachdem ich es wieder hineingesteckt hatte, stellte ich die Kiste auf den Boden, um die darunter zu durchstöbern, in der ebenfalls nur Kleidung verstaut war. Die dritte war vollgestopft mit Spielsachen, einem anderen Stoffbären, einer Baseballkappe und dem entsprechenden Ball dazu, abgegriffen mit zerfranster Naht, sowie Sneakers mit verknoteten Schnürsenkeln und getrocknetem Matsch an den Sohlen. Neben einem motorbetriebenen Bleistiftspitzer fand ich etwas, das wie die Achse eines Spielautos aussah, an der nur noch ein schwarzes Rad befestigt war, und schließlich fiel mir eine illustrierte Kinderbuchausgabe von Die Schatzinsel in die Hände.
So arbeitete ich mich durch alle Behälter – mit einer Mischung aus hartnäckigem Unglauben und zunehmender Benommenheit – bis zum untersten. Wie sich herausstellte, war dieser nicht wie die anderen, sondern aus hellblauem Plastik mit roter Kordel zum Anpacken. Mir war, als raste ein Bolzenschloss ein; gewisse Schlüsselelemente fügten sich, obwohl ich nicht genau eruieren konnte, was es war.
Читать дальше