»Okay«, sagte ich schließlich, indem ich auf sie zuging, um sie zu umarmen, wobei der Flaschenhals in meinen Unterbauch stach. »Ist schon gut.«
Jodie seufzte an meiner Schulter, da ließ ich sie wieder los. Ich erwartete eigentlich, sie hätte feuchte Augen, doch dem war nicht so. Sie sah einfach nur unglaublich müde aus.
»Am besten rufst du irgendwen an, der herkommt und dieses Zeug wegschafft.« Sie nickte in Richtung des Kinderzimmers. »Und ich will kein Wort mehr über das verlieren, was dem Jungen zugestoßen ist. Es ist tragisch, hat aber nichts mit uns beiden zu tun.«
»Richtig«, pflichtete ich bei, während ich noch eine ihrer Schultern massierte. »Absolut überhaupt nichts.«
Am nächsten Morgen rief ich eine Räumungsfirma namens Allegheny Pickup and Removal an und gab einem gewissen Harry Peters zu verstehen, man solle Elijah Dentmans Zeug abholen. Es würde zehn Tage dauern, bis wir drankämen. Jodie war nicht sehr erfreut darüber. Falls sie dem versteckten Kinderzimmer und seiner Einrichtung tagtäglich mehr als nur einen flüchtigen Gedanken schenkte, gelang es ihr aber auf fabelhafte Weise, sich nichts anmerken zu lassen.
Ich hingegen ertappte mich dabei, zu jeder Gelegenheit, die sich ergab, hinunter in den Keller zu schleichen – obwohl ich meiner Frau versprochen hatte, genau dies zu unterlassen –, angetrieben durch ein unerklärliches Verlangen, und um Elijahs Habe zu durchforsten.
Adams Geschichte über den Unfalltod des Buben hatte bei der Entdeckung dieser Gruft von einem Zimmer dazu geführt, dass ein vormals verglimmender Funke der Kreativität erneut in meiner Seele aufglühte. So lichtete sich meine Schreibblockade wie schwere Nebelschwaden, die hinaus aufs Meer zogen, und ich sah es wieder vor mir, das große Ganze.
Ich verlor jegliches Interesse an dem Manuskript, mit dem ich mich bisher befasst hatte. Holly hatte die ersten Kapitel bereits gelesen und Begeisterung bezeugt, doch ich fing an, eine fiktive Familie – oder hatte sie nicht vielleicht doch allzu wirkliche Vorbilder? – zu entwickeln, die von schweren Zerwürfnissen heimgesucht wurde: Eine alleinstehende Mutter und ihr junger Sohn zogen bei dessen Onkel und Großvater ein, der wiederum im Sterben lag. Welche Art von Leben mochten diese Menschen führen? Was geschah mit diesem Jungen, der dazu gezwungen war, in einer Zelle zu hausen, die sich Poe für Das Fass Amontillado hätte ausdenken können?
Natürlich entgingen mir die Gemeinsamkeiten der Tode von Elijah und Kyle nicht. Beide waren ungefähr im gleichen Alter gestorben, und ihre Zimmer hatte man nach dem jeweiligen Unfall auf mysteriöse Weise unberührt gelassen, Elijahs im Keller von Waterview Court 111, Kyles in unserem Haus in Eastport. Als ältester Sohn hatte Adam ein Zimmer für sich allein gehabt, während ich mit Kyle zusammengelegt worden war. Nach seinem Tod hatte Vater meine Sachen zu Adam gebracht, und ich war gefolgt. Eines kalten Tages im Dezember hatten meine Eltern Kyles Hinterlassenschaft still und wie durch Fäden manipuliert in die Garage verbannt.
(Was später damit geschehen war, entzog sich meiner Kenntnis. Nachdem Vater gestorben und Mutter zu ihrer Schwester nach Ellicott City gezogen war, kehrten Adam und ich zur Stätte unserer Kindheit zurück, um uns um das Vermächtnis unseres Vaters zu kümmern. Ich rechnete damit, Kyles Sachen immer noch in der Garage zu finden, sah mich gnadenlos damit konfrontiert – wie ein Mörder am Pranger, wenn der Tag des Jüngsten Gerichts nahte –, musste am Ende aber verdattert feststellen, dass es verschwunden war. Irgendwie kam mir dies schlimmer vor, als alles noch einmal vor Augen zu haben, weil es bedeutete, dass sich meine Eltern zumindest einmal Zeit genommen hatten, um sich der Erinnerungsstücke zu entledigen. Der Gedanke daran, welchen Kummer sie dabei verspürt haben mochten, schmerzte sehr.)
Besagter Parallelen wegen und weil ich nicht wusste, wie Elijah Dentman ausgesehen hatte, verpasste ich meinem fiktiven Jungen Charakterzüge von Kyle – schmächtig und hellhaarig, mit goldigen Augen und langen Wimpern sowie rotbraunen Sommersprossen auf dem Nasenrücken. Als einziger Flachsschopf war er das schwarze Schaf der Familie gewesen. Ich schrieb fieberhaft und war nach jeder Sitzung zwar ausgelaugt, aber umso begeisterter.
Eines Nachmittags, als Jodie wieder einmal mit Beth unterwegs war, rief ich Adam an und bat ihn, so schnell wie möglich herzukommen. Er erschien in seiner blauen Polizeiuniform mit der Mütze in den Händen auf der Terrasse. In der Uniform sah er doppelt so stämmig aus, zumal die Schutzweste unterm Hemd seine Brust rund wie ein Whiskeyfass wirken ließ.
»Was um alles in der Welt ist denn so dringend? Du hast ja am Telefon kaum Luft gekriegt.«
Ich führte ihn nach unten in das Zimmer.
»Verdammte Scheiße.« Adam bekam den Mund nicht mehr zu. »Machst du Witze?« Wie Jodie blieb er auf der Schwelle stehen, als hindere ihn eine unsichtbare Barriere am Eintreten.
Abends packte mich einmal mehr der Drang, etwas zu Papier zu bringen. Aber ich war es leid, mit Stift und Block auf meinem Schoß auf der Couch zu sitzen. So fuhr ich einen Stuhl mit Rollen, den ich neben weiteren Überbleibseln im Keller entdeckt hatte, in Elijahs Zimmer direkt vor den Schreibtisch, und nachdem die Höhe soweit bequem eingestellt war, schlug ich meinen Block auf und fing wie im Wahn zu schreiben an.
Dabei entstanden Zerrbilder von Tooey Jones, Ira und Nancy Stein sowie Szenen von Adams Weihnachtsfeier, nicht zu vergessen das Kellerschlafzimmer hinter der Wand. Ausführlich beschrieb ich das halb versenkte Treppengerüst im See. Und natürlich Elijah Dentman selbst, meine Hauptfigur und tragische Gestalt, den bedauerlichen Buben, den man in einer regelrechten Untergrundzelle festhielt. Was für ein Kind war er? Wie entwickelte sich ein Zehnjähriger, verwahrte man ihn in einem Keller? (Als mir der Schuhkarton mit den verendeten Vögeln wieder einfiel, wurde mein Körper taub wie im Fieber.)
Vorerst hatte ich die Schreibblockade überwunden und befand mich auf einem Höhenflug in Bausch und Bogen. Unter mir blinkten Lichter, ein Geflecht umtriebiger Verkehrswege, und ich stieg immer höher.
Als ich den Stift endlich niederlegte, schmerzte meine Hand, und am Zeigefinger tat sich eine ansehnliche Blase auf. Der Text in meinem Notizbuch hingegen las sich wunderbar fließend, und die Beschreibungen waren sehr ausführlich geraten. Was mir jedoch abging, war eine eigentliche Geschichte . Ich wusste zu wenig über die Dentmans, als dass ich ihr Leben akkurat hätte wiedergeben können. So zwängte ich meinen kleinen Jungen in ein Kellerversteck, ohne zu begreifen, was ihn dorthin gebracht hatte. Wer war Elijah? Wer waren die Dentmans?
Ich musste es herausfinden.
Als ich in der öffentlichen Bibliothek Westlake ankam, war es gerade erst Viertel nach elf. Eisengraue Wolken zogen am Horizont auf und verhießen neuen Schnee.
Das Gebäude wirkte plump und besaß eine Ziegelsteinfassade, stand an der Kreuzung zwischen Hauptstraße und Glasshouse Street im Schutze dichtgedrängter Ahornbäume, die ohne Blätter spindeldürr anmuteten. Drinnen war es totenstill. Wie immer, wenn ich eine Bücherei aufsuchte, begab ich mich in den G-Bereich und fand ein einzelnes, zerfleddertes Exemplar meines Romans Silent River zwischen den anderen Einbänden. Augenscheinlich stammte es aus einer Privatsammlung und war der Bibliothek vermacht worden, denn auf der Innenseite des Umschlags entdeckte ich den Namen G. Kennow.
An der Information lächelte mich eine ältere Dame mit sympathisch großmütterlichem Gesicht und Zweistärkenbrille an. Sie cremte sich gerade die Hände ein.
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