»Ich warf die Notizbücher weg, weil ich dachte, so einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen zu können.«
»Und? Funktionierte es?«
Mein Kopf fühlte sich knallrot und heiß an, wie glühende Asche. Ich schaute in den Spiegel, nur um sicherzugehen, dass kein Schweiß auf meiner Kopfhaut verdampfte.
»Hat es geklappt?«
»Ich hasse es, das jetzt zu sagen.«
»Wieso?«
»Weil es geklappt hat. Es widert mich regelrecht an, dies zuzugeben, aber während der Zeit in London habe ich fast überhaupt nicht an Kyle gedacht. Ich erinnere mich sogar an einen Zeitungsbericht über ein kleines Mädchen, das in Highgate Ponds ertrunken war. Beim Lesen sagte ich mir noch: Ach ja, ich vergaß, das Gleiche ist Kyle zugestoßen. « Ich rieb meine Augen; die Finger waren vom Bier klebrig. »Oh Gott, ich höre mich ätzend an.«
»Du suchst bloß einen Mittelweg«, erwiderte Adam und trank ein weiteres Glas leer. »Die Antwort besteht darin, dich einerseits nicht selbst zu verurteilen und ein Leben im Kummer zu fristen, andererseits aber auch nicht zu verdrängen, was geschehen ist.« Er schaute auf seine Uhr. »Wir sollten aufbrechen. Es ist schon spät.«
Beinahe hätte ich ihn am Handgelenk gepackt und die eine verbliebene Frage gestellt, die mir schon seit Tagen auf den Lippen brannte: Glaubst du an Geister? Bevor ich mich jedoch dazu hinreißen ließ, wurde mir blitzartig klar, wie absurd es geklungen hätte, also behielt ich es weiterhin für mich.
Ohnehin weiß alle Welt, wo die Toten hinkommen – unter die Erde.
Als ich in jener Nacht nach Hause zurückkehrte, schlief Jodie bereits. Es war bitterkalt im Haus, also legte ich eine zusätzliche Decke über sie und küsste ihre Wange. Sie regte sich und brummelte, wobei eine ihrer Hände unter den Laken herausrutschte und meinen Arm packte. Sie drückte zu.
»Wollte dich nicht wecken«, flüsterte ich von der Bettkante aus.
»Hmmm«, summte sie schläfrig. »Macht nichts. Legst du dich zu mir?«
»Noch nicht.«
»Willst du was Witziges hören?«
»Sicher«, beteuerte ich nach wie vor wispernd.
»Kurz bevor du zurückgekommen bist, war ich auf dem Klo.«
»Hast nicht zu viel versprochen«, entgegnete ich, indem ich ihren Handrücken rieb. »Ein echter Brüller.«
»Nein«, wandte sie ein. »Hör zu.«
»Mach ich.«
»Ich ging ins Bad und schaltete das Licht ein. Dabei musste ich blinzeln, du weißt schon, weil es so hell war und ich schon geschlafen hatte. Kennst du doch, oder?«
»Natürlich.«
»Also kniff ich die Augen zusammen, guckte in den Spiegel, und weißt du was? Ich sah nicht mich, sondern jemand anderen darin.« Ihr Gesicht schien über dem weißen Gebirge des Kissens zu schweben und wirkte geisterhaft bleich, wie der Mond.
»Weißt du, wen ich sah?«
»Wen?«
»Dich«, sprach Jodie. »Ich war du – nur für den Bruchteil einer Sekunde. Aber ich war du.«
Ich beugte mich nach vorn und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie fühlte sich sehr warm an. »Du hast das geträumt«, erklärte ich ihr.
»Nein«, widersprach sie. »Ich war hellwach. Was glaubst du, hat das zu bedeuten?«
»Hab keine Ahnung«, gab ich zu und stopfte die Decken fester um sie herum.
Jodie wälzte sich auf die Seite, wobei ich ein zaghaftes Lächeln auf ihren Lippen bemerkte. »Ich auch nicht.« Ihre Lider flatterten, ehe sie die Augen wieder schloss. »Das ist wohl das Schöne am Geheimnisvollen.«
Nach dem dritten Kuss ging ich leise in den Flur und schaute nach dem Thermostat. Es zeigte nach wie vor zwanzig Grad an, obwohl es sich im Schlafzimmer wie unter zehn anfühlte. Ich sah sogar den Hauch meines Atems.
»Verdammt, das ist lächerlich.«
Im Büro gegenüber leuchtete etwas, also steckte ich den Kopf durch den Türspalt und machte die Lampe an. Jodie hatte ihren Tisch an die Wand gestellt. Der Bildschirm darauf strahlte sein amethystfarbenes Licht ab, daneben stand ein altertümlicher Drucker, und Jazz-CDs lagen verteilt auf der Arbeitsfläche. Die ganze Wand über dem Tisch war mit gerahmten Auszeichnungen tapeziert, Diplomen wie Abschlusszeugnissen und einer Liste der besten Studenten Amerikas neben einer Frau-des-Jahres-Plakette der alten Universität, an der sie ihr Grundstudium absolviert hatte. Am Boden stapelten sich Bücher über Psychologie sowie Ordner voller Fotokopien wie Türme einer gerade entstehenden Stadt, Diagramme und Kurven voller Textmarker-Linien. Ich fühlte mich schlecht, weil ich nicht sauber gemacht und Jodie damit sich selbst überlassen hatte.
Zitternd ging ich wieder nach unten. Nach all dem Ärger mit der launischen, unzuverlässigen Heizung hatte ich mich daran gewöhnt, hinterm Haus Holz zu hacken, mit dem wir den Kamin im Wohnzimmer fast rund um die Uhr am Brennen hielten. Ich schnappte mir ein paar frisch gehauene Klötze von der Terrasse und warf sie ins Feuer.
Nach ungefähr fünf Minuten loderte es beschaulich. Dann nahm ich eine Flasche Chivas aus unserem kärglich bestückten Spirituosenschrank in der Diele und goss einen Fingerbreit in ein schweres Kognakglas. Mit dem Rücken an der Wand hockte ich dann vorm Feuer und schaute dem Spiel der Flammen zu. Der Whiskey brannte im Hals und strahlte wohlige Wärme bis in meine Zehen aus.
Über eine Stunde verbrachte ich vor dem Kamin und sah zu, wie die Glut schwächer wurde beziehungsweise letztlich erstarb, während ich die Konversation mit Adam bei Tooey Revue passieren ließ. Ich hatte ihm freimütig gestanden, dass Kyle in London aus meinem Gedächtnis verschwunden war, und wie miserabel ich mich deshalb fühlte. Das war die Wahrheit. Doch die Rückkehr in die Staaten und unser Einzug in Westlake – in ein altes Haus voller Geflüster, voller Geheimnisse und kalter Hände, die mir nachts an die Brust fassten – hatten alles wieder aufgewühlt. War die kleine Londoner Wohnung ein sicheres Refugium gewesen, war ich nun bemüht, meinen Kopf frei zu halten. Was mich ängstigte, war die Unsicherheit, ob mich tatsächlich nur die Erinnerung an Kyle plagte – oder die Möglichkeit, dass etwas anderes an mir nagte, mich langsam bearbeitete wie ein Steinmetz und schlussendlich niederrang.
Sie hatten Elijah Dentman nie gefunden, und das bedeutete, dass sein Leichnam immer noch dort unten im stillen, schwarzen Wasser war – mit weißlich aufgeblähter Haut, an der sich die Fische gütlich taten und die Augen tief in den Schädel zurückgewichen waren. Geistig vor mir sah ich schwarz gewordene Fingerspitzen, aus denen die Knochen bereits herausragten, und grünes Haar, das wie Seetang auf einem düster leuchtenden Schädel im Schlick waberte.
Fuck , dachte ich.
Ich stand auf und ging zurück an den Schrank, wo ich den Chivas abstellte, dann wandte ich mich zurück zur Treppe.
Irgendwo im Haus schallte etwas Metallisches. Das Geräusch hallte wider und klang so, als schlüge jemand mit einem Schraubschlüssel gegen ein starres Eisenrohr.
Auf halbem Weg die Stufen hinauf hielt ich inne. Mein Puls fing zu rasen an.
Es knallte ein zweites Mal, jetzt erschreckend laut und direkt aus einem der Heizungsrohre. Ein Pfeifen wie aus der Ferne schloss sich an, was mich an die Sirene eines nahenden Feuerwehrautos erinnerte. Dann plötzlich schwoll der Lärm weiter an, wuchs sich zu einem steten, tiefen Brummen aus.
Ich machte kehrt und ging im Flur auf allen Vieren nieder, um meinen Kopf dicht über einen der Lüftungsschlitze zu halten. Daraus stieg keine Wärme auf, obwohl es gerade so geklungen hatte, als sei die Heizung angesprungen. Dieses befremdliche, fortwährende Brummen …
Es klang wie eine Stimme.
Irgendein Teil meiner selbst, der sich für die animalischen Instinkte am Grunde meiner Seele verantwortlich zeigte, flammte auf und übernahm nun die Zügel. Ich presste ein Ohr an den Schlitz und lauschte – ein unbestimmter, langgezogener i-Laut, hinter dem ich allenthalben vage schwaches Wispern ausmachte –, dann vibrierte der Heizkessel und schaltete wieder ab. Das Stottern aus seinem Inneren tönte wie verebbendes Gelächter in einem übervollen Zuschauerraum. Jetzt erst, während ich immer noch mit dem Ohr am Metallgitter klebte, bemerkte ich, dass ich die Luft angehalten hatte. So atmete ich mit bebenden Lungen aus; einen Augenblick später war mir, als tat jemand auf der anderen Seite des Schlitzes das Gleiche.
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