Ich fuhr hoch, wobei mein Herz wie ein wildes Tier gegen die Rippen zu drängte, die es beengten.
Nach weniger als zehn Sekunden stand ich am Absatz der Kellertreppe und schaute hinunter in das unendliche, nicht fassbare Dunkel. Meine Hand am Türknauf schwitzte. »Genug«, sagte ich laut, obwohl meine Stimme kaum so bestimmt klang, wie ich es mir wünschte. »Das muss aufhören.«
Ich verharrte einen Augenblick, wollte mir aber nicht eingestehen, dass ich eine Art Antwort von unten befürchtete, sie aber auch dringlich erwartete, vielleicht ein flüchtiges Schaben oder sogar den Blick eines glühenden Augenpaares vom Fuß der Treppe. Nichts von alledem passierte.
Fröstelnd ging ich zu Bett.
»Ich will ein paar von Elijahs Sachen zurück zu seiner Mutter bringen«, sagte ich.
Die Sonne schien an diesem Morgen im Januar, und die Luft roch nach Mesquitebäumen. Adam und ich spazierten um den See. Jeder von uns hielt einen dampfenden Pappbecher Kaffee in der Hand. Vor uns tollten Jacob und Madison zwischen den Bäumen herum, lieferten sich eine Schneeballschlacht. Ihr Lachen klang wie Kirchenglocken. Im Vergleich zu den vergangenen Wochen war es milder geworden, doch das Eis auf dem See war nach wie vor dick und sah nicht so aus, als werde es allzu bald schmelzen. Der unverhofft klare Himmel zeichnete die Gebirgskette am Horizont reliefartig scharf nach.
Adam nippte an seinem Kaffee und fuhr gleich darauf mit dem Handrücken über seinen Mund. »Wieso?« Er blickte hinaus auf den gefrorenen See und die Reihen Schwarzkiefern am Gegenufer. Seine stahlblauen Augen blickten nüchtern. Weiß dampfender Atem quoll zwischen seinen aufgesprungenen Lippen heraus.
»Schwer zu erklären«, erwiderte ich. »Ich habe einfach das Gefühl, es tun zu müssen – für mich selbst, vielleicht aber auch für die Mutter.«
Er strafte mich mit einem strengen Blick.
Ich fügte schnell an: »Es geht darum, einen Mittelweg zu finden, denk daran. Das Glück liegt in der Ausgewogenheit, über das wir bei Tooey gequatscht haben.«
»Warum erzählst du mir das?«
»Weil ich annehme, du weißt, wo Veronica Dentman lebt. Zumindest könntest du es für mich herausfinden, denn immerhin bist du Polizist.«
Sein Lachen donnerte wie ein Feuerwerkskörper.
»Was denn? Bin ich ein Arschloch, nur weil ich etwas tun möchte, von dem ich glaube, dass es eine hehre Sache ist?«
»Das haben wir schon durchgekaut. Veronica Dentman ließ dieses Zeug aus gutem Grund zurück. Ob du ihre Entscheidung gutheißt oder nicht, ist ehrlich gesagt ziemlich egal. Ich dachte, du hättest eine Räumungsfirma beauftragt, um die Sachen abzuholen.«
»Das wird noch eine Woche dauern«, antwortete ich. Es war gelogen, denn erst am Morgen hatte ich die Leute wieder angerufen und abgesagt. Jodie wusste nichts davon, und auch Adam sollte es nicht erfahren. Nach dem, was in der Nacht geschehen war, sowie allen anderen Vorkommnissen im Zusammenhang mit unserem Umzug nach Westlake hielt ich es für unangebracht, dass Fremde einmarschierten und Elijahs persönliche Gegenstände sehr wahrscheinlich zerstörten.
»Ich halte das für eine schlechte Idee.«
»Da irrst du dich.«
»Tu ich nicht. Ich denke, du übertrittst eine Grenze, indem du dich in anderer Leute Leben einmischst. Diese Frau hat ihren Sohn letztes Jahr verloren; als sie all die Kartons zurückließ, wusste sie genau, was sie tat.«
»Siehst du? Exakt darum geht es«, konterte ich. »Ich glaube, dass sie es eben nicht wusste. Gut, vielleicht war es zu jener Zeit am besten für sie, sich auf diese Weise Luft zu verschaffen, aber nachdem nun eine Weile verstrichen ist, würde sie sich bestimmt darüber freuen, die Sachen wiederzubekommen.«
»Wer bist du, Dr. Phil?«
»Ich meine es ernst. Was ist, wenn sie es bereut, den Kram nicht mitgenommen zu haben? Falls sie es im Nachhinein als kapitalen Fehler ansieht, für den sie sich selbst hasst?«
»Auch wenn dem so wäre: Was kümmert es dich?«
Weil etwas in diesem Haus wollte, dass ich das Zimmer fand , hätte ich fast gesagt. Ich stieß aus gutem Grund auf all diese Dinge.
Wir erreichten eine Lichtung im Wald an der Spitze des Sees. Gegenüber sah ich das Haus der Steins hinter den nackten, grauen Bäumen auf den Felsen. Wir setzten uns auf einen Baumstumpf, der breit genug für uns beide war, während Jacob und Madison weiter durch den Schnee sprangen, der von ihren Stiefeln bröckelte und in die Höhe stob, als sie beim Rennen mit den Hacken ausschlugen.
Adam bot mir eine Zigarette an. Ich nahm sie. Nachdem er sich die letzte in den Mund gesteckt hatte, zerknüllte er das leere Päckchen und entsorgte es in einem Blecheimer, der praktischerweise an den Stamm eines nebenstehenden Baumes genagelt war.
Ich hatte seine Frage nicht beantwortet; sie schwebte noch zwischen uns in der Luft wie etwas, das wir beide peinlich fanden.
»Hör zu«, sprach Adam schließlich. »Was wirst du tun, wenn du im Haus dieser armen Frau aufkreuzt, wenn sie zusammenbricht, sobald sie sieht, dass dein Wagen voll beladen mit den Spielsachen ihres toten Sohnes ist? Denkst du, es wird dir besser gehen, nachdem sie vor dir umgekippt ist und sich die Augen ausgeweint hat? Was hat sie davon?«
»Du begreifst es nicht.«
»Oh doch, ich begreife es voll und ganz. Hier geht es nicht um den Jungen der Dentmans.«
»Worum sonst?«
Adam wandte sich ab. »Vergiss es.«
»Nein«, beharrte ich. »Raus mit der Sprache.«
»Gottverdammt, Mann. Erkennst du es denn nicht? Du hängst wieder einmal in einer klassischen Sackgasse deines Lebens fest, und in typischer Travis-Glasgow-Manier, tust beziehungsweise sagst, was du willst, solange du dich eine Weile besser fühlst, egal wie andere dabei empfinden.«
Ein Schlag ins Gesicht hätte mir weniger wehgetan als das. Vermutlich merkte er es auch, denn sein Blick ruhte eine Millisekunde zu lang auf mir, und ehe er wegschaute, sah ich, seine Züge weich werden.
Ich warf die Zigarette auf die Erde und erhob mich.
»Scheiße«, grollte Adam. »Tut mir leid. Das hörte sich brutaler an, als es gedacht war.«
»Egal, nun ist es raus.« Aus irgendeinem Grund bekam ich zittrige Hände, also versteckte ich sie in meinen Taschen.
»Hass mich, falls dir danach ist, aber ich kann nicht ruhig zusehen, wenn du auf dem besten Weg bist, dir selbst zu schaden.«
»Scheiß drauf, Mann. Du hältst dich für den großen beschissenen Beschützer vor allen Übeln der Welt und glaubst, dir ein verschissenes Martyrium aufbürden zu müssen, nur weil du mein älterer Bruder bist. Falls du es noch nicht bemerkt hast: Ich bin keine dreizehn mehr. Ich kann gut auf mich selbst aufpassen.«
»Vergiss es wieder, okay?« Adam klang so gottverdammt gelassen, dass ich ihm am liebsten eine aufs Maul gehauen hätte. »Die Welt ist nicht gegen dich. Genauso wenig wie ich. Diese ganze Selbstmitleid-Sache ist seit Jahren abgelaufen.«
Etwas in mir klinkte aus. Ich drehte mich ruckartig um. »Du bist ein Stück Scheiße – weißt du das? Du hast mich abgewiesen, als wir klein waren, nach dem, was mit Kyle passierte. Und jedes Mal, wenn wir miteinander streiten, wirfst du mir dasselbe vor. Du bist ein mieses Schwein, Adam.«
Er sprang so ungestüm von dem Baumstamm auf, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte. Ich hasste mich dafür, ungewollt zusammengezuckt und einen Schritt zurückgewichen zu sein.
»Ich hab dich weder abgewiesen noch jemals für Kyles Tod verantwortlich gemacht«, sagte er, »sondern nur dafür, dass du danach ein richtiges Arschloch geworden bist.«
»Du kannst dir nicht vorstellen, was ich durchgemacht –«
»Ich war auch ein beschissenes Kind! Du hast keinen Schimmer davon, was ich durchgemacht habe.« Seine Stahlaugen brannten sich in meine, und ich hasste es, nicht wegsehen zu können. Ich hasste es, dass er der Stärkere war, in dieser Situation und vermutlich über weite Teile unseres Lebens hinweg. »Auch ich habe einen Bruder verloren, du beschissener Blödmann.«
Читать дальше