Ich kletterte über den Zaun und flitzte zum Bach. Nur einmal hielt ich kurz an und holte mein Sparschwein aus dem unkrautüberwucherten Versteck zwischen den Uferfelsen. Dann watete ich durchs Wasser und lief weiter zum Hochwald.
Sobald ich die Tannen erreicht hatte, ließ ich ein wenig Dampf ab, um mich nicht zu verirren. Es gab keine Wege, weil hier selten einer vorbeikam. Die Leute machten sogar tagsüber einen großen Bogen um den Wald – er war einfach zu düster und einsam. Wie ausgestorben lag er da. Nichts bewegte sich im Unterholz, und sogar die Vögel schwiegen.
Aber ich kannte mich aus. Ich mußte bloß den Hügelkamm überqueren und den Hang auf der anderen Seite wieder runterlaufen. Ganz unten, an der finstersten, einsamsten Stelle lag die Geisterschlucht.
Und in der Geisterschlucht gab es eine Felshöhle.
Und in der Felshöhle wohnte die Waldhexe.
Wenigstens hatte ich gehört, daß sie da wohnte. Als ich mich jedoch auf Zehenspitzen an das große schwarze Loch ranpirschte, fand ich keine Menschenseele. Bloß die Schatten krochen von allen Seiten auf mich zu.
Ehrenwort, es war echt gruselig. Ich spürte ein Kribbeln in den Fußsohlen, aber ich blieb da.
Nach einer Weile rief ich: »He – Sie kriegen Besuch!«
»Wer da?«
»Ich bin’s – Jody Tolliver.«
»Weerr daa?«
Ich schaute auf und entdeckte eine mächtige Schreieule, die auf einem Ast neben der Höhle hockte und mich mit ihren Funkelaugen anglotzte.
Als ich mich wieder dem Felsloch zuwandte, stand sie plötzlich da – die Waldhexe.
Ich begegnete ihr zum erstenmal im Leben, aber ich wußte genau, daß sie die Waldhexe war. Zaundürr und verschrumpelt sah sie aus. Sie trug nur ‘n paar Lumpen, und ihr Gesicht unter der altmodischen Haube war schwarz wie ein Klumpen Kohle.
Quatsch, sag ich zu mir, denk dir nix – das ist ‘ne nette alte Lady, mehr nicht!
Dann schaute sie mich an, und ihre Augen waren viel größer als die von der Eule. Sie funkelten auch doppelt so wild.
Ich spürte schon wieder dieses Kribbeln in den Fußsohlen, aber ich guckte nicht weg.
»Tag, Waldhexe«, sagte ich.
»Weerr daa?« kreischte die Eule.
»Der junge Tolliver«, rief ihr die Waldhexe zu. »Du hast wohl Wachs in den Ohren, was? Und nun sei so gut und quatsch nicht ständig dazwischen!«
Die Eule warf ihr einen bösen Blick zu und flatterte davon. Die Waldhexe kam ganz aus ihrer Höhle hervor.
»Kümmere dich nicht um Ambrose«, meinte sie. »Der ist Besucher nicht gewöhnt. Tagein, tagaus sieht er bloß mich und die Fledermäuse.«
»Was für Fledermäuse?«
»Ach, die hängen drinnen in der Höhle.« Die Waldhexe strich ihr Kleid glatt. »Ich tat dich ja gern reinbitten, aber bei mir geht’s drunter und drüber. Ich nehm mir immer vor, mal richtig aufzuräumen, doch meist kommt was dazwischen – erst der verdammte Weltkrieg, dann die Prohibition, und so fort. Ich schaff’s einfach nicht.«
»Aber ich bitte Sie!« sagte ich weltmännisch. »Es geht sowieso um geschäftliche Angelegenheiten.«
»Dachte ich mir fast.«
»Hier – ich hab’ Ihnen auch was Hübsches mitgebracht.«
»Was denn?«
»Mein Sparschwein«, erklärte ich und reichte es ihr.
»Da dank ich dir aber sehr«, sagte die Waldhexe.
»Schlagen Sie’s ruhig kaputt«, forderte ich sie auf.
Sie schmetterte es an einen Stein, und die Münzen rollten auf den Boden. Flink sammelte sie alle ein.
»Wieviel ist es denn?« fragte ich. »Ich hab’ immerhin fast zwei Jahre gespart.«
»Siebenundachtzig Cents, ‘n alter Nickel und ‘ne Plakette zum Anstecken.« Sie zahnte. »Die ist besonders hübsch. Was steht ‘n da drauf?«
»Keep cool with Coolidge!«
»Na, wenn das kein guter Rat ist!« Die Waldhexe schob das Geld ein und machte die Anstecknadel an ihrem Kleid fest. »So, junger Mann – Schönheit, wem Schönheit gebührt. Und was kann ich für dich tun?«
»Es ist wegen meinem Opa«, sagte ich. »Titus Tolliver heißt er.«
»Titus Tolliver? Aber den kenn ich doch! Hatte eine Brennerei in der Holzhütte drunten am Bach. Ist ‘n stattlicher Mann, mit ‘m schwarzen Vollbart, was?«
»War er vielleicht mal«, widersprach ich. »Inzwischen ist er ganz verhutzelt, und der Rheumatismus plagt ihn. Außerdem sieht er schlecht. Und seine Ohren taugen gar nichts mehr.«
»Jammerschade, so was«, meinte die Waldhexe. »Aber früher oder später geht es mit uns allen bergab. Und wenn’s soweit ist, muß man eben den Löffel wegschmeißen.«
»Genau deshalb bin ich hier. Er will nicht.«
»Was will er nicht?«
»Er ist tot und will das nicht einsehen.«
Die Waldhexe musterte mich scharf. »Also, das möcht ich genauer wissen.«
Na, und da redete ich los. Erzählte ihr die ganze miese Geschichte von Anfang an.
Sie hörte mir zu und sagte kein Wort. Als ich fertig war, starrte sie mich an, bis ich ‘n ganz kribbeliges Gefühl bekam.
»Ich weiß schon, daß Sie mir nicht glauben«, sagte ich. »Aber ich schwör’s, es ist die reine Wahrheit.«
Die Waldhexe schüttelte den Kopf. »Ich glaub dir schon, mein Junge. Wie gesagt, ich kenn deinen Opa von früher. War schon damals ein verdammt sturer Teufel, und das ist er wohl geblieben. Dem sein Leiden nennt man Starrsinn in Potenz.«
»Kann sein«, meinte ich. »Aber da können wir nix dagegen tun, und der Doc und der Herr Hochwürden auch nicht.«
Die Waldhexe rümpfte die Nase. »Ach, die beiden! Was wissen die schon?«
»Eben drum bin ich hergekommen. Vielleicht können Sie uns weiterhelfen.«
»Na, dann laß mich mal nachdenken.«
Die Waldhexe zog eine Maiskolbenpfeife aus der Tasche und steckte sie an. Ich weiß nicht, was für ein Kraut sie rauchte, aber der Gestank bog einem Christenmenschen fast die Zehennägel auf. Mir war ganz komisch zumute, und am liebsten hätte ich mich verkrümelt. Der Wald wirkte schummerig, und ein kalter Wind raschelte in den Blättern.
»Irgendwas gibt’s doch sicher«, drängte ich. »Einen Talisman oder einen Zauberspruch …«
Sie schüttelte den Kopf. »Alles kalter Kaffee. Das hier ist eine von diesen neumodischen Sachen, wo sich im Kopf abspielen, und da brauchen wir auch neumodische Mittel. Dein Opa, der lacht sich schief, wenn den einer verhexen will. Wie er selber sagt – er stammt aus Missouri. Dem muß bloß einer beweisen, daß er tot ist.«
»Aber wie?«
Die Waldhexe kicherte trocken. »Ich hab’s!« Sie blinzelte mir zu. »Klar, mein Sohn, genau das ist es! Renn nicht davon, ich bin gleich wieder da!« Und sie huschte zurück in ihre Höhle.
Ich stand da, spürte, wie mir der Wind in den Nacken blies, und hörte auf das Rascheln der Blätter. Ich wollte gar nicht so genau verstehen, was sie da wisperten.
Dann kam sie wieder ins Freie. Sie hielt etwas in der Hand.
»Nimm das mit!« sagte sie.
»Was ist ‘n das?«
Sie verriet es mir und sagte auch, was ich damit tun sollte.
»Und Sie glauben echt, daß wir es so schaffen?«
»Es ist die einzige Chance.«
Also schob ich das Ding in die Hosentasche, und sie gab mir einen kleinen Klaps. »So, junger Mann, und nun wetz los, damit du noch vor dem Abendessen daheim bist!«
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, wo der eisige Wind so in den Bäumen stöhnte und wimmerte und die Dunkelheit immer näher an mich rankroch.
Ich murmelte ein Vergeltsgott und büchste los. Als ich noch einmal umschaute, stand die Waldhexe am Eingang ihrer Höhle und polierte die Coolidge-Plakette mit einem Stück Efeuwurzel.
Ich rannte durch den Wald, den Hügel rauf und auf der anderen Seite wieder runter. Als ich die Felder erreichte, war alles stockdunkel, und im Bach spiegelte sich der Mond. Ein Habicht, der vor einem Mauseloch auf der Lauer saß, flog erschrocken auf, aber das war mir egal. Ich lief im Zickzack zum Zaun, setzte darüber und riß die Küchentür auf.
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