Ich hab’ ihr einen Shilling gegeben, aber sie warf ihn in den Rinnstein und schrie: ›Durch den ersten wirst du den letzten verlieren!‹ Das habe ich natürlich nicht verstanden. Ist doch komisch, Smitherson, daß ich mit meinem schlechten Gedächtnis mich auf einmal an diese längst vergangenen Dinge erinnere.«
Die Glocke im Saal ließ vier dumpfe Schläge ertönen.
»Ich werde jetzt das Gerüst aufbauen«, sagte Duck. »Ich habe genug Zeit vor mir, und ich baue es allein auf, seit ich meine Helfer selbst bezahlen muß; so erspare ich mir eine ganz hübsche Summe.«
Smitherson wäre gern eingeschlafen, doch es gelang ihm nicht.
Er hörte im Wachzimmer die Hammerschläge, mit denen Duck nebenan in dem grausigen kleinen Saal die Querbalken fixierte, und dann das Knarren der Fallklappenhebel, deren einwandfreies Funktionieren er prüfen wollte.
Fünf Uhr.
In einer halben Stunde würde man die Reveille für die Wächter blasen müssen; die für die Gefangenen wurde wegen der Hinrichtung verschoben.
Rock wunderte sich über Ducks Ausbleiben; der erledigte gewöhnlich alles im Handumdrehen.
Er ging zur Todeskammer, da vernahm er ein dumpfes Geräusch. Es schauerte ihn, denn er kannte es nur zu gut: es war das Nachgeben der Fallklappe, gefolgt von dem abscheulichen weichen Aufprallen des Körpers am Ende seines Falles.
Im Geiste sagte er sich, daß das nicht nur einfach das Geräusch einer Fallklappenprobe war …
Die Hinrichtungskammer war leer.
Die Fallklappe stand offen, und ein gespannter, ins Dunkel reichender Strick schwang, langsam und regelmäßig pendelnd, hin und her.
Er beugte sich über das abstoßende, tiefe Loch.
Da sah er Duck … gehängt.
Als Smitherson sich umwandte und einen Alarmschrei ausstieß, sah er, an den Galgenpfosten gelehnt, den Geist Browns, der ihn mit furchtbaren Augen ansah.
Eine gnädige Ohnmacht entzog Smitherson dem Kreis der wenigen Zeugen, die den nun folgenden unerklärlichen Begebenheiten beiwohnten.
Sie werden, nicht ohne Grund, in den Akten von Pentonville nicht erwähnt; im Merkbuch des Direktors läßt sich jedoch das Fehlen von einem halben Dutzend Seiten feststellen, die, sorgfältig herausgeschnitten, angeblich noch im Innenministerium aufbewahrt werden.
Der Pförtner Clevens wurde aus dem Halbschlaf, der ihn gewöhnlich gegen Ende der Nacht überkam, nicht durch Lärm, denn es herrschte völlige Stille, sondern durch ein entsetzliches Angstgefühl gerissen, von dem ihm übel wurde.
»Das Herz«, sagte er. »In meinem Alter …«
Er warf einen Blick in den Korridor und sah einige Schatten, die sich gruppiert in Richtung des zentralen Rundbaus bewegten.
»Teufel«, brummte er, »was geht da vor?«
Später hat Clevens vor allem betont, daß während der schrecklichen Minuten, welche er hilflos, als Gefangener einer übermenschlichen Gestalt, die ihn der Bewegung und der Sprache beraubte, zu durchstehen hatte, eine ungeheure Stille herrschte.
Die zuerst aus undeutlichen Schatten bestehende Gruppe nahm allmählich klare und beängstigende Formen an.
Die einen trugen eine schwarze Kapuze über dem Kopf, die anderen hatten das Gesicht entblößt, und die erkannte er alle; es waren die Männer, die er im Morgengrauen mit einem Strick um den Hals hatte sterben sehen: Skinslop … Rogers … Piochinni … Wang-Su, ein Chinese … Kirby … Ruttermole … O’Neill …
Er nannte im Geist ihre Namen, aber er sah, wie sie sich militärisch in einer Reihe aufstellten; und plötzlich verband er andere Namen mit ihnen, die Namen von lebenden Menschen, welche sich irren Blicks, mit von einer unbeschreiblichen Angst verzerrten Gesichtern unter die Gespenster mischten.
Ja, sie ordneten sich ein, von unsichtbaren Händen an den Schultern geschoben: die Wächter Soames, Thomson, Pritchard, Hackle, der Vizedirektor Fisher und der Richter Hatterley, der als Gast Fishers am folgenden Tag ebenfalls der Hinrichtung beiwohnen sollte.
Getrennt von ihnen durch einen freien Raum von wenigen Metern, gehörten auch sechs zum Tode verurteilte Gefangene, sowie Hilary Channing zu dem geheimnisvollen Zug, der sich bildete.
Im Gegensatz zur ersten Gefangenengruppe trugen diese eine ruhige, ja sogar zufriedene Miene zur Schau. Plötzlich setzte sich der Zug in Bewegung: Menschen und Geister marschierten, wenige Schritte von Clevens entfernt, anscheinend ohne ihn zu sehen, in langsamem Paradeschritt vorbei und bewegten sich dem Hauptgang zu.
Das Gitter, welches beide Teile dieses langen, mit schwarzweißen Fliesen belegten Korridors trennte, ging wie ein Fallgitter hoch; und die Gleitschienen, die normalerweise Klingeln in Bewegung setzten, funktionierten diesmal nicht.
Das große Tor öffnete sich lautlos, und Clevens sah in der Ferne im Nebel verschwommen die Straßenlampen.
Das Tor blieb so lange offen, bis der Zug im Nebel verschwand, dann schloß es sich wieder geräuschlos.
Ganz langsam und allein trat Browns Geist durch den Gang; sein schwarzer Umhang sah aus wie riesige nächtliche Flügel, der breite Hut war tief in die Stirn gedrückt.
Er blieb vor Clevens stehen und sagte:
»Ihr habt Glück, du und Smitherson, daß ihr keine schlechten Menschen seid.«
Der Pförtner sah ihn nicht verschwinden, verspürte aber im nächsten Augenblick einen heftigen Schmerz im ganzen Körper, so als hätte er mit beiden Händen eine Leydener Flasche angefaßt.
Niemals fand man eine Spur der Beamten oder der Gefangenen wieder, die von den Geistern entführt worden waren.
Aber die Gerichtsärzte, die die Leiche des Henkers Duck zu untersuchen hatten, erlebten etwas Bestürzendes.
Die Leiche war mit dem Wagen zum Anatomiesaal nach South-Kensington gebracht worden, und als die Saaldiener sie auf den Seziertisch legten, lösten sich von ihr große Fleischstücke los, die Knochen durchstießen das Gesicht und die Gliedmaßen, und die zerfressene, faulende Masse der Eingeweide wurde sichtbar.
»Eine Leiche, die mehrere Tage in ungelöschtem Kalk gelegen hat«, stellte der Gerichtsarzt Miller fest.
Es verging eine verhältnismäßig lange Zeit, ehe Smitherson und Clevens von der schrecklichen Nacht zu sprechen wagten.
Und auch nur mit leiser Stimme, bei Cufly, dessen dog-nose ihnen Mut machte.
»Im Grunde genommen freue ich mich für Channing«, gestand Rock Smitherson, »und für Duck empfinde ich keinerlei Mitleid.«
»Und die anderen … ich meine die Kollegen, Fisher und der Richter Hatterley, die entführt wurden, waren zugegebenermaßen schlechte Menschen«, erklärte Clevens.
»Wo sie wohl sein mögen?« murmelte Smitherson.
»Besser, man redet nicht mehr darüber.«
Und beide richteten ängstliche Blicke auf die Tür, als erwarteten sie, daß sie im nächsten Augenblick von dem Geist mit dem schwarzen Umhang und dem breiten Hut aufgestoßen würde.
Das Gespenst von Knut Hamsun
Er war zeitlebens ein Verächter und Feind aller Konventionen, ein romantischer Aufrührer, dessen Sympathie den ewigen Wanderern und Landstreichern gehörte, jenen ganz den geheimnisvollen Kräften der Natur hingegebenen Menschen, die er in seinen Romanen und Erzählungen immer wieder liebevoll schilderte – unverdorbene Gegenbilder zu der seelenlosen technisierten Kultur, die er während seiner Jahre in Nordamerika hassen gelernt hatte. 1920 erhielt Knut Hamsun (1859-1952) den Nobelpreis für seinen Roman ›Segen der Erde‹, einen Lobgesang auf den Bauern, der die Wildnis urbar macht und Land kultiviert. Neben einem tiefverwurzelten Naturgefühl zeigen seine Werke einen ausgeprägten Sinn für das Hintergründige und Irrationale der menschlichen Individualität, für die Mysterien des Lebens, die er dem geschwätzigen Blendwerk der modernen Zivilisation entgegenhält.
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