Die größte Plage für den armen, unglücklichen Schneider war die Langeweile, die entsetzliche, bodenlose, ewige Langeweile, welche sich seiner bemächtigte. Ohne Schlaf, ohne Abwechslung, ewig Tag und Nacht ruhelos auf dem kleinen Sandfelde umhergetrieben, dehnten sich ihm die Stunden zu endloser Länge. Dazu ward er von gespenstischen Empfindungen seiner früheren menschlichen Neigungen geplagt. Er empfand zu den bestimmten Zeiten einen gespenstischen Hunger und Durst, eine gespenstische Müdigkeit, ohne das Vermögen zu haben, diese Triebe zu befriedigen.
Am Tage saß er, wie gesagt, gern auf dem kleinen Hügel und spähte dann in die Landschaft hinaus und zu der Stadt hinüber, die fern hinter dem Wiesengrunde zwischen Bäumen versteckt lag, oder er wanderte ruhelos an der längst verwehten Scheide, welche die beiden verhängnisvollen Acker einst trennte, auf und ab. Die kleinen blauen Schmetterlinge, welche über dem Heidekraut ihr Wesen trieben, flogen ungehindert durch ihn hindurch, und eines Tages, als er gerade so stand, daß ein dürrer Zweig in seinen Leib hineinragte, kam ein kleiner Vogel geflogen, setzte sich auf diesen Zweig und sang. Das Tier saß genau in seinem Magen, ohne auch nur das geringste davon zu bemerken.
Eine andere Pein für den armen Schneider war, daß niemals des Nachts ein Mensch in diese Gegend kam, welchem gegenüber er in seinem Beruf hätte arbeiten können. Wenn er auch nur ein armes, altes und sehr kümmerliches Gespenst war, so hatte er doch den Ehrgeiz seines neuen Standes und es hätte ihm wohlgetan, was er im Leben nie erreicht hatte, nämlich einen Menschen fürchten zu machen, nach seinem Tode noch gelingen zu sehen. Aber die Gegend war wüst und einsam, es hatte am Tage niemand dort zu tun, und noch weniger des Nachts. So kam zu allem noch der nagende Kummer eines verfehlten Berufes und das niederschlagende Bewußtsein, für den besten Willen in der Welt ohne Anerkennung zu bleiben.
Aber die Zeit mag noch so langsamen Schneckenganges gehen – sie geht doch wenigstens, aus Wochen wurden Monate, aus Monaten Jahre, und immer noch schwebte das arme alte Gespenst einsam, verlassen, ohne Anerkennung an dem alten Ort.
Doch endlich in einer wundervollen, mondhellen Sommernacht sollte der langgehegte Wunsch in Erfüllung gehen. Der gespenstische Schneider saß gerade wieder auf seinem Hügel, da hörte sein feines Ohr im Walde ein Geräusch, und kurze Zeit darauf sah er eine menschliche Gestalt, vom Monde hell beleuchtet, auf das Sandfeld heraustreten. Die Gestalt schaute sich um und schritt dann auf den Hügel zu. Es schien ein Student zu sein, wie sich beim Näherkommen zeigte; er trug eine bunte Mütze und eine leichte Wandertasche. Das Gespenst zitterte an allen Gliedern vor Aufregung, es machte sich so lang es konnte, versuchte sich ein wenig aufzublasen und bemühte sich, schrecklich zu sein. Infolgedessen sah es über alle Begriffe komisch aus. Das fand auch der lustige Student, denn er lachte, als er es erblickte und rief: »Guten Abend, altes Gespenst, könnt Ihr mir nicht sagen, wo der Weg zur Stadt geht, ich habe mich verirrt!«
Das Schreckliche, was der arme Schneider im geheimen gefürchtet hatte, das Jämmerlichste, welches seinem Stande begegnen konnte, war eingetroffen, der erste Mensch, welcher ihn sah, fürchtete sich nicht einmal vor ihm. Doch so leicht wollte er es nicht aufgeben und noch einmal blies er sich auf, verzerrte seine Züge und begann feierlich auf den Studenten loszuschreiten. Doch dieser lachte wieder und sprach: »Ach laßt das nur. alter Herr, es kleidet Euch nicht. Ihr habt Euern Beruf verfehlt. Warum habt Ihr kein anderes Metier ergriffen,– als Gespenst werdet Ihr es nie zu etwas bringen!«
Das war zuviel für den armen Schneider, er stieß einen wehmütigen Klagelaut aus, sank auf eine Baumwurzel nieder und verbarg das Gesicht in beiden Händen. Der Student war eine mitleidige Seele.
»Was habt Ihr denn, altes Phantom?« fragte er liebreich und setzte sich zu ihm, »wenn ich Euch helfen kann, so tue ich es gern, ich habe zu Berlin die Schwarzkunst studiert und fürchte mich vor nichts.« Der Student redete ihm so freundlich zu, daß der arme alte Schneider das Gespenst der Rührung empfand und alles herunterbeichtete, was er auf der Seele hatte. Es war das erstemal, daß er seine Schuld offenbarte. Und wie er sprach und sich selbst anklagte, ward seine Dunstgestalt immer blasser und blasser und die letzten Worte erschallten nur noch wie aus leerer Luft. Das bloße Geständnis hatte ihn befreit. Dann hörte der Student es in einiger Entfernung aus den Lüften tönen: »Dank, Dank, du hast mich erlöst.« Dann von Zeit zu Zeit, aus der Richtung, wo die Stadt lag, kam immer ferner und leiser ein Ruf: »Dank … Dank … Dank!« Zuletzt nur noch wie ein Hauch, dann war alles rundherum still.
Der Student saß lange nachdenklich auf dem Hügel und schaute der Richtung nach, wo er die Stimme zuletzt gehört hatte. Im Osten rötete sich der Himmel, und als die Sonne emporstieg und rings alles wieder im glänzenden Licht dalag, brach er einen Zweig von der alten Kiefer, steckte ihn an seine Mütze und wanderte auf die Stadt zu, welche im Schimmer der Morgensonne vor ihm lag.
Die Klausenburg von Ludwig Tieck
»Selbst die schönste Gegend hat Gespenster, die durch unser Herz schreiten, sie kann so seltsame Ahnungen, so verwirrte Schatten durch unsere Fantasie jagen, daß wir ihr entfliehen und uns in das Getümmel der Welt hinein retten möchten …« So entsteht nach den Worten des Romantikers Ludwig Tieck (1773-1853) das Wunderbare in der Poesie, aus dem alle romantische Dichtung erwächst, »indem wir die ungeheure Leere, das furchtbare Chaos mit Gestalten bevölkern«. Und so bemächtigt sich dieser abgründigen Märchenwelt auch das Grausige und Schreckliche, das Seltsame, Groteske und Dämonische. Märchen wie ›Der blonde Eckbert‹ und der ›Runenberg‹ (1802) haben nichts mehr mit der Naivität des Volksmärchens gemeinsam und führen bereits in das entfremdete Grauen zwischen Traum und Wahnsinn. Das Sammelwerk ›Phantasus‹ (1812-1816) leitete in Tiecks realistische Spätzeit über, in der die Novellenform vorherrscht. Seine zahlreichen späten Novellen vermitteln eine sich im Gesprächsstil entwickelnde realistische Weltsicht, die dennoch nicht Tiecks ins Bizarre und Gespenstische abschweifende Fantasie gänzlich verleugnen kann. Eine echte ›Gespenster-Geschichte‹ ist ›Die Klausenburg‹ aus dem Jahre 1837.
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Es war fast Mitternacht. Sie wird heut nicht mehr kommen, sagte der junge Graf, das Schloß liegt ihr zu fern, das Wetter ist ungewiß, die Wege sind nicht die besten.
Und, rief der junge Anselm, was wetten wir, daß sie dennoch erscheint, trotz allen Ihren Befürchtungen? denn sie reist gern in der Nacht, sie hat es versprochen und setzt alles an ihr Wort.
Wetten? antwortete Graf Theodor, ich bin kein Freund davon, aber ich wünsche, daß Ihre Vorhersagung, Baron, die Sie so dreist aussprechen, in Erfüllung geht; denn wir gewinnen alle, wenn Sie recht behalten.
Und tritt der Fall nicht immer ein? rief der hochmütige Anselm mit schnödem Tone.
Wenn Sie Ihrer Sache so überaus gewiß sind, rief Theodor ihm entgegen, so tun Sie wenigstens unrecht, Wetten anzubieten.
Anselm sagte: wenn Sie es scheuen, Geld zu wagen, so ließe sich ja auch die Frage anders stellen.
Thedor stand auf, als wenn er dem Redenden näher treten wollte, die Wirtin des Hauses aber, welche diesen Ungestüm der beiden jungen hochfahrenden Männer fürchtete, begütigte sie beide, indem sie das Gespräch auf andere Gegenstände richtete. Sie forderte einen ältlichen, kleinen Mann auf, in der Geschichte, welche zufällig war unterbrochen worden, fortzufahren, doch dieser sagte mit einer schlauen Miene: Verehrte Baronin, es möchte in diesem Augenblicke zu spät sein, denn vom Tale herauf höre ich schon ein Posthorn klingen, und jetzt möchte ich auch darauf wetten, daß in weniger als einer Viertelstunde die schöne Sidonie hier im Saale stehen wird.
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