«Das hat er gewiss nicht gesagt.»
«Doch. Und dann steckte er den Kopf in Ottos Wiege, als wollte er ein winziges Insekt untersuchen, und brummte: ‹Ich frage mich bloß, warum sie nicht etwas ansehnlicher sein können. Das ist alles, was ich wissen möchte.› Drei Tage darauf war Otto tot. Wir haben ihn schnell noch am dritten Tag getauft, und an demselben Abend starb er. Und dann starb Gustav. Und dann starb Ida. Alle starben sie, Herr Doktor … und plötzlich war das ganze Haus leer …»
«Denken Sie jetzt nicht daran.»
«Ist dieses sehr klein?»
«Es ist ein ganz normales Kind.»
«Aber klein, nicht wahr?»
«Nun, besonders groß ist es nicht. Aber gerade solche Kinder sind meistens sehr widerstandsfähig. Und stellen Sie sich nur vor, Frau Hitler, nächstes Jahr um diese Zeit wird der Junge schon gehen lernen. Ist das nicht ein hübscher Gedanke?»
Sie antwortete nicht.
«Und in zwei Jahren wird er sich den Mund fusselig reden und Sie mit seinem Geplapper verrückt machen. Haben Sie denn schon einen Namen für ihn?»
«Einen Namen?»
«Ja.»
«Ich weiß nicht. Jedenfalls nicht genau. Ich glaube, mein Mann hat gesagt, wenn’s ein Junge wäre, sollte er Adolphus heißen.»
«Dann würde er also Adolf genannt werden.»
«Ja. Mein Mann liebt den Namen, weil Adolf so ähnlich wie Alois klingt. Mein Mann heißt Alois.»
«Ausgezeichnet.»
«O Gott!», rief sie und setzte sich plötzlich im Bett auf. «Bei Ottos Geburt hat man mich genau dasselbe gefragt. Das bedeutet, dass er sterben wird! Sie wollen ihm die Nottaufe geben, nicht wahr?»
«Aber, aber …» Der Arzt nahm sie sanft bei den Schultern. «Wie können Sie so etwas denken? Ich schwöre Ihnen, dass Sie sich irren. Ich bin nun mal ein neugieriger alter Mann und spreche gern über Namen. Adolphus klingt sehr hübsch, finde ich. Einer von meinen Lieblingsnamen. Und sehen Sie … da kommt er.»
Die Wirtin, die den Säugling hoch auf ihrem enormen Busen trug, segelte freudestrahlend auf das Bett zu. «Hier ist die kleine Schönheit!», rief sie. «Wollen Sie ihn nehmen, meine Liebe? Oder soll ich ihn neben Sie legen?»
«Ist er auch warm eingepackt?», fragte der Arzt. «Hier drinnen ist es mächtig kalt.»
«Keine Sorge, der friert bestimmt nicht.»
Das Baby war fest in einen weißen Wollschal gewickelt, der nur sein winziges rotes Köpfchen frei ließ. Die Wirtin legte es behutsam neben die Mutter. «So», sagte sie, «jetzt können Sie ihn nach Herzenslust ansehen.»
«Ich glaube, er wird Ihnen gefallen», meinte der Arzt lächelnd. «Ein prächtiger kleiner Junge.»
«Und was für entzückende Hände er hat!», begeisterte sich die Gastwirtsfrau. «So lange, zarte Finger!»
Die Mutter rührte sich nicht. Sie wandte nicht einmal den Kopf, um ihr Kind anzuschauen.
«Na, was denn!», rief die Wirtin. «Der beißt Sie doch nicht!»
«Ich habe Angst hinzusehen. Ich kann einfach nicht glauben, dass ich wieder ein Kind habe, noch dazu eines, das ganz gesund ist.»
«Los, los, seien Sie nicht so dumm.»
Langsam bewegte die Mutter den Kopf und blickte in das kleine, überaus friedliche Gesicht neben ihr auf dem Kissen. «Ist das mein Baby?»
«Natürlich.»
«Oh … oh … wie schön es ist …»
Der Arzt ging zum Tisch und fing an, seine Sachen einzupacken. Die Mutter lag im Bett, schaute ihr Kind an, streichelte es lächelnd und gab kleine Laute der Freude von sich.
«Adolphus», flüsterte sie. «Mein kleiner Adolf …»
«Pst!», machte die Wirtin. «Hören Sie? Ich glaube, Ihr Mann kommt.»
Der Arzt öffnete die Tür und blickte in den Korridor hinaus. «Herr Hitler?»
«Ja.»
«Kommen Sie bitte herein.»
Ein schmächtiger Mann in dunkelgrüner Uniform trat leise ins Zimmer und sah sich suchend um.
«Ich gratuliere», sagte der Arzt. «Sie haben einen Sohn.»
Der Mann hatte einen gewaltigen Backenbart nach dem Vorbild des Kaisers Franz Joseph und roch stark nach Bier. «Einen Sohn?»
«Ja.»
«Wie geht’s ihm?»
«Ausgezeichnet. Und Ihrer Frau auch.»
«Gut.» Mit merkwürdig gezierten kleinen Schritten näherte sich der Vater dem Bett seiner Frau. «Nun, Klara», sagte er, durch den Bart lächelnd, «wie war’s denn?» Er beugte sich vor, um das Baby zu betrachten. Er beugte sich tiefer. Mit raschen, ruckartigen Bewegungen beugte er sich immer tiefer, bis sein Gesicht nur noch zehn, zwölf Zoll von dem Kinderköpfchen entfernt war. Die Frau lag daneben und sah mit flehendem Blick zu ihm auf.
«Großartige Lungen hat er», verkündete die Gastwirtsfrau. «Sie hätten sein Geschrei hören sollen. Kaum war er auf der Welt, da brüllte er auch schon los.»
«Aber … mein Gott, Klara …»
«Was ist, Lieber?»
«Der ist ja noch schwächlicher als Otto!»
Der Arzt trat hastig ein paar Schritte vor. «Dem Kind fehlt nichts, gar nichts.»
Langsam richtete sich der Mann auf, wandte den Kopf und sah den Arzt an. Er machte einen verwirrten, ratlosen Eindruck. «Mir brauchen Sie nichts vorzulügen, Herr Doktor», sagte er. «Ich weiß Bescheid. Mit dem wird’s wieder genauso gehen.»
«Jetzt hören Sie mal zu …», begann der Arzt.
«Ja, wissen Sie denn nicht, was mit den anderen passiert ist?»
«Denken Sie nicht mehr an die anderen, Herr Hitler. Sie müssen zuversichtlich sein.»
«Aber so klein und schwächlich …!»
«Mein lieber Herr, es handelt sich um ein Neugeborenes.»
«Trotzdem …»
«Was soll denn das heißen?», empörte sich die Wirtin. «Wollen Sie ihn etwa ins Grab reden?»
«Genug!», sagte der Arzt scharf.
Die Mutter weinte. Heftiges Schluchzen schüttelte ihren Körper.
Der Arzt trat zu dem Mann und legte ihm die Hand auf die Schulter. «Seien Sie gut zu ihr», flüsterte er. «Bitte. Es ist sehr wichtig.» Er schob ihn mit einem kräftigen Druck auf die Schulter unauffällig an das Bett heran. Der Mann zögerte. Der Arzt drückte stärker, gab ihm mit Fingern und Daumen zu verstehen, was er von ihm erwartete. Schließlich beugte sich der Mann widerstrebend über seine Frau und küsste sie leicht auf die Wange.
«Schon gut, Klara», sagte er. «Hör auf zu weinen.»
«Ich habe so innig gebetet, dass er am Leben bleibt, Alois.»
«Ja.»
«Monatelang bin ich Tag für Tag in die Kirche gegangen und habe die Heilige Jungfrau auf den Knien angefleht, dass sie mir dieses Kind am Leben erhält.»
«Ja, Klara, ich weiß.»
«Drei tote Kinder – mehr kann ich nicht ertragen, verstehst du?»
«Natürlich.»
«Er muss leben, Alois. Er muss , er muss … O Gott, hab Erbarmen mit ihm …»
Mit einem Geschirrtuch in der Hand trat Louisa aus der Küchentür an der Rückseite des Hauses in den kühlen Oktobersonnenschein hinaus.
«Edward!», rief sie. «Ed-ward! Das Essen ist fertig!» Sie wartete einen Augenblick und lauschte; dann überquerte sie, von einem kleinen Schatten begleitet, den Rasen. Als sie an dem Rosenbeet vorbeikam, strich sie leicht mit dem Finger über die Sonnenuhr. Für eine kleine, untersetzte Frau bewegte sie sich recht anmutig, schritt mit sanft schwingenden Schultern und Armen elastisch aus. Hinter dem Maulbeerbaum erreichte sie den gepflasterten Weg, auf dem sie weiterging, bis sie in die Senkung am Ende des großen Gartens hinabschauen konnte.
«Edward! Essen!»
Jetzt sah sie ihn dort unten am Waldrand, etwa achtzig Schritte entfernt – eine hochgewachsene, schmale Gestalt in Khakihosen und dunkelgrünem Sweater. Er stand neben einem lodernden Feuer und warf mit der Forke Brombeerranken hinein. Der milchige Rauch, der in Wolken aus den orangefarbenen Flammen quoll und über den Garten hinwegtrieb, verbreitete einen herrlichen Geruch nach Herbst und brennendem Laub.
Читать дальше