«Aha.»
«Edward, bitte !»
Louisa stand neben dem Klavier, ihr kleines rosiges Gesicht war rosiger denn je, mit einem purpurroten Fleck auf jeder Wange. «Wenn du es wissen möchtest», fuhr sie fort, «will ich dir sagen, was ich denke.»
«Ich höre, meine Liebe.»
«Wir befinden uns in diesem Augenblick – jedenfalls halte ich das für durchaus möglich – in Gegenwart von …» Sie verstummte, als wäre sie sich auf einmal der Absurdität ihres Gedankens bewusst geworden.
«Nun?»
«Du wirst mich vielleicht für verrückt halten, Edward, aber ich bin fest davon überzeugt …»
«In Gegenwart von wem, zum Donnerwetter?»
«Von Franz Liszt persönlich!»
Edward zog kräftig an seiner Zigarette und blies den Rauch zur Decke hinauf. Er hatte hohle Wangen mit straffer Haut, wie ein Mann sie hat, der seit Jahren ein künstliches Gebiss trägt, und sooft er den Rauch inhalierte, fielen die Wangen noch mehr ein, und die Knochen stachen hervor wie bei einem Gerippe. «Was soll das heißen?», erkundigte er sich.
«Hör zu, Edward. Nach dem, was ich heute Nachmittag mit eigenen Augen gesehen habe, scheint es sich tatsächlich um eine Art Wiedergeburt zu handeln.»
«Meinst du etwa die lausige Katze?»
«Lieber, bitte, sprich nicht so.»
«Du bist doch nicht krank, Louisa, wie?»
«Danke schön, mir geht’s ausgezeichnet. Gewiss, ich bin ein wenig durcheinander, aber wer wäre das nicht nach dem, was geschehen ist? Edward, ich schwöre dir …»
«Was ist denn geschehen, wenn ich fragen darf?»
Louisa erklärte es ihm. Während sie sprach, lag ihr Mann im Sessel, beide Beine lang ausgestreckt, zog an der Zigarette und blies den Rauch zur Decke hinauf. Um seinen Mund spielte ein kleines zynisches Lächeln.
«Ich sehe an alledem nichts Ungewöhnliches», sagte er, als sie ihren Bericht beendet hatte. «Eine dressierte Katze. Irgendjemand hat sie abgerichtet, das ist alles.»
«Unsinn, Edward. Immer wenn ich Liszt spiele, wird sie maßlos aufgeregt, kommt angelaufen und setzt sich zu mir auf die Klavierbank. Aber nur bei Liszt, und niemand kann eine Katze den Unterschied zwischen Liszt und Schumann lehren. Den kennst ja nicht einmal du. Aber sie weiß genau Bescheid, sogar bei ganz unbekannten Sachen von Liszt. Jedes Mal.»
«Zweimal», warf der Mann ein. «Sie hat’s nur zweimal so gemacht.»
«Zweimal genügt.»
«Los, versuch’s gleich nochmal.»
«Nein», widersprach Louisa. «Auf keinen Fall. Denn wenn es Liszt ist, wie ich glaube, oder jedenfalls Listzs Seele oder was sonst wiederkommt, dann ist es gewiss unrecht und taktlos, eine Menge alberner Versuche mit ihm anzustellen.»
«Meine Liebe, das hier ist eine Katze – eine ziemlich dumme graue Katze, die sich vorhin im Garten beinahe das Fell am Feuer versengt hätte. Und überhaupt, was weißt du von Reinkarnation?»
«Wenn seine Seele hier ist, genügt mir das», antwortete Louisa energisch. «Das ist alles, worauf es ankommt.»
«Dann soll er’s vormachen, dieser Herr Liszt. Lass ihn zeigen, dass er zwischen seinen und anderen Werken unterscheiden kann.»
«Nein, Edward. Ich habe dir schon gesagt, dass ich mich weigere, irgendwelche Tests mit ihm zu veranstalten. Für einen Tag hat er davon reichlich genug gehabt. Aber eines werde ich tun. Ich werde ihm noch eine seiner eigenen Kompositionen vorspielen.»
«Als ob das etwas beweisen könnte!»
«Pass nur auf. Ich versichere dir, wenn er die Musik erkennt, wird er sich nicht von der Bank rühren, auf der er jetzt sitzt.»
Louisa ging zum Notenschrank, zog einen Band Liszt heraus, blätterte ihn rasch durch und wählte eine seiner schönsten Schöpfungen, die Sonate b-Moll. Eigentlich hatte sie nur den ersten Satz spielen wollen, aber als sie die Katze sah, die buchstäblich vor Wonne zitterte und ihre Hände wieder mit jenem hingerissenen und dabei konzentrierten Blick beobachtete, da brachte sie es nicht übers Herz, aufzuhören. Sie spielte die Sonate zu Ende und schaute dann lächelnd ihren Mann an. «Bitte sehr», sagte sie, «du kannst nicht leugnen, dass er es über alle Maßen genossen hat.»
«Ach was, das Tier liebt den Lärm, das ist alles.»
«Nicht den Lärm, sondern die Musik. Habe ich nicht recht, Liebling?», fragte sie und nahm die Katze auf den Arm. «Ach, wenn er doch nur reden könnte. Stell dir vor, Edward – in seiner Jugend hat er Beethoven gekannt. Und Schubert und Mendelssohn und Schumann und Berlioz und Grieg und Delacroix und Ingres und Heine und Balzac. Und … ja, warte … er war Wagners Schwiegervater! Mein Gott, ich halte Wagners Schwiegervater in meinen Armen!»
«Louisa!», sagte der Mann scharf und richtete sich kerzengerade auf. «Nimm dich zusammen.» Seine Stimme hatte plötzlich einen anderen Klang, und er sprach ungewöhnlich laut.
Louisa warf ihm einen raschen Blick zu. «Edward, ich glaube, du bist eifersüchtig.»
«Auf eine lausige graue Katze? Dass ich nicht lache!»
«Dann sei gefälligst nicht so mürrisch und zynisch. Wenn du dich so benehmen willst, geh lieber an deine Gartenarbeit zurück und lass uns beide in Frieden. Das wäre für uns alle das Beste, nicht wahr, Liebling?», sagte sie zu der Katze und streichelte ihr den Kopf. «Und heute Abend werden du und ich noch ein wenig musizieren, natürlich aus deinen eigenen Werken. Ach ja» – sie küsste das Tier mehrmals auf den Nacken –, «vielleicht spielen wir dann auch etwas von Chopin. Du brauchst mir gar nichts zu sagen – ich weiß, dass du Chopin gern hast. Du warst sehr befreundet mit ihm, nicht wahr, Herzchen? Wenn ich mich recht erinnere, bist du sogar in Chopins Wohnung der großen Liebe deines Lebens, dieser Madame Soundso, begegnet. Drei uneheliche Kinder hatte sie von dir, wie? Jawohl, so war es, du unartiges Ding, versuche nur nicht, es abzustreiten. Nun, du sollst nachher ein bisschen Chopin hören», schloss sie und küsste die Katze von neuem. «Das wird vermutlich allerlei schöne Erinnerungen in dir wecken.»
«Louisa, jetzt ist aber Schluss!»
«Reg dich doch nicht auf, Edward.»
«Du benimmst dich absolut idiotisch. Außerdem vergisst du, dass wir heute unseren Canasta-Abend bei Bill und Betty haben.»
«Nein, heute kann ich unmöglich ausgehen. Das ist ganz ausgeschlossen.»
Edward erhob sich langsam aus seinem Sessel, beugte sich vor und stieß die Zigarette hart in den Aschenbecher. «Sag mal», fragte er ruhig, «glaubst du das wirklich – diesen Quatsch, den du da redest?»
«Aber natürlich. Da kann’s doch gar keinen Zweifel mehr geben. Und ich finde, es lädt uns eine enorme Verantwortung auf, Edward – uns beiden. Dir ebenso wie mir.»
«Und weißt du, was ich finde?», versetzte er. «Ich finde, du solltest zum Doktor gehen, und zwar schleunigst.»
Wütend drehte er sich um und stapfte durch die Verandatür in den Garten hinaus.
Louisa sah ihm nach, während er über den Rasen zu seinem Feuer und seinem Brombeergestrüpp ging. Sie wartete, bis er außer Sicht war, machte dann kehrt und lief, noch immer mit der Katze im Arm, zur Haustür.
Gleich darauf saß sie im Wagen und fuhr in die Stadt.
Sie parkte vor der Bibliothek, schloss die Katze im Wagen ein, eilte die Stufen zu dem Gebäude hinauf und steuerte geradewegs auf das Katalogzimmer zu. Dort suchte sie im Schlagwortkatalog nach Büchern über zwei Themen: Seelenwanderung und Liszt.
Unter Seelenwanderung fand sie ein Werk mit dem Titel Wiederkehr des Erdenlebens – Wie und Warum , das von einem Mann namens F. Milton Willis verfasst und im Jahre 1921 erschienen war. Unter Liszt waren zwei Biographien aufgeführt. Sie entlieh alle drei Bände, kehrte zu ihrem Wagen zurück und fuhr nach Hause.
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