«Wie?», fragte ich.
«Los, küss mich.»
In diesem Augenblick sah ich ihren Mund, ihren großen Mund langsam auf mich zukommen, sich öffnen, sich immer weiter öffnen, und auf einmal fühlte ich, wie sich mir der Magen umdrehte, und ich erstarrte vor Schreck.
«Nein!», schrie ich. «Nein, Mammi, nein!»
Glauben Sie mir, in meinem ganzen Leben habe ich nichts Entsetzlicheres gesehen als diesen Mund. Ich konnte es einfach nicht ertragen, dass er mir näher und näher kam. Hätte mir jemand ein rotglühendes Eisen ins Gesicht stoßen wollen, ich wäre längst nicht so versteinert gewesen, das schwöre ich. Die starken Arme hielten mich fest umschlungen, sodass ich mich nicht rühren konnte, und der Mund wurde größer und größer. Plötzlich war er dicht über mir, riesig, feucht, ein klaffendes Loch – und in der nächsten Sekunde war ich drinnen.
Ich befand mich ganz in dem riesigen Mund, lag längs der Zunge auf dem Bauch, mit den Füßen irgendwo in der Gegend der Kehle, und ich wusste instinktiv, dass ich genau wie das kleine Kaninchen lebend verschluckt werden würde, wenn es mir nicht sofort gelang zu entkommen. Ich fühlte, wie meine Beine durch eine Art Sog in den Schlund hinabgezerrt wurden, hob rasch die Arme, packte die unteren Vorderzähne und hielt mich aus Leibeskräften daran fest. Mein Kopf war nahe der Mundöffnung, ich konnte sogar zwischen den Lippen ein Stückchen Außenwelt sehen – den gebohnerten Holzfußboden des Sommerhauses, der im Sonnenschein glänzte, und darauf einen gigantischen Fuß mit einem weißen Tennisschuh.
Ich hatte mich krampfhaft an den Rand der Zähne geklammert und war dabei, mich trotz des Sogs langsam zum Tageslicht hinaufzuziehen, als plötzlich die oberen Zähne auf meine Fingerknöchel schlugen und so wütend zubissen, dass ich loslassen musste. Ich glitt abwärts, die Füße voran, und suchte dabei wie verrückt nach irgendeinem Halt, aber alles war so weich und glatt, dass ich nichts packen konnte. Als ich an dem letzten Backenzahn vorbeirutschte, sah ich etwas Goldenes aufblitzen, und drei Zoll weiter erblickte ich über mir etwas, was wie ein dicker roter Stalaktit vom Gaumen herabhing und wohl das Zäpfchen war. Ich griff mit beiden Händen danach, aber das Ding glitschte durch meine Finger, und ich sauste in die Tiefe.
Ich erinnere mich, dass ich um Hilfe rief, doch ich vermochte kaum meine eigene Stimme zu hören, weil die Kehle von lärmenden Atemzügen widerhallte. Hier schien immer eine steife Brise zu wehen, ein merkwürdiger, wechselnder Wind, der bald sehr kalt (beim Einatmen) und bald sehr heiß (beim Ausatmen) war.
Ich brachte es fertig, mich mit den Ellbogen an einer scharfen, fleischigen Erhebung festzuhaken – vermutlich war es der Kehldeckel –, blieb dort einen Augenblick hängen und strampelte mit den Beinen, um an der Wand des Schlundes Halt zu finden, aber eine heftige Schluckbewegung der Kehle riss mich mit, und es ging wieder abwärts.
Von nun an gab es nichts mehr, woran ich mich hätte klammern können, und ich glitt tiefer und tiefer, bis meine Beine im oberen Teil des Magens baumelten. Ich fühlte, wie mich die langsame, starke rhythmische Darmbewegung ergriff und mich immer weiter nach unten beförderte.
Hoch über mir, draußen an der frischen Luft, hörte ich Frauenstimmen schwatzen:
«Das kann doch nicht wahr sein …»
«Meine liebe Mildred, wie schrecklich …»
«Der Mann muss verrückt sein …»
«Ihr armer Mund, schauen Sie ihn nur an …»
«Ein Wüstling …»
«Ein Sadist …»
«Wirklich, wir sollten an den Bischof schreiben …»
Und dann Miss Roachs Stimme, lauter als die anderen. Sie kreischte wie ein Papagei und fluchte wie ein Landsknecht. «Der kleine Dreckskerl hat verdammtes Glück, dass ich ihn nicht umgebracht habe. Hören Sie, sagte ich zu ihm, wenn ich mir einen Zahn ziehen lassen will, dann gehe ich zum Zahnarzt und nicht zu einem lausigen Vikar … Dabei habe ich ihm nicht die geringste Veranlassung gegeben …»
«Wo steckt er denn jetzt, Mildred?»
«Weiß der Himmel. Wahrscheinlich in dem verwünschten Sommerhaus.»
«Los, Kinder, wir wollen ihn aufstöbern!»
O Gott, o Gott. Wenn ich jetzt, nach drei Wochen, auf das alles zurückblicke, begreife ich nicht, wie ich den Albdruck dieses entsetzlichen Nachmittags überlebt habe, ohne den Verstand zu verlieren.
Sich mit einer solchen Hexenbande einzulassen ist sehr gefährlich, und wäre es ihnen gelungen, mich in dem Sommerhaus zu erwischen, sie hätten mich in ihrer sinnlosen Wut auf der Stelle in Stücke gerissen.
Entweder das, oder sie wären mit mir durch die Hauptstraße des Dorfes zur Polizeiwache marschiert, Lady Birdwell und Miss Roach an der Spitze der Prozession.
Aber natürlich erwischten sie mich nicht.
Es ist ihnen damals nicht gelungen, und es ist ihnen bis heute noch nicht gelungen, und wenn mir das Glück treu bleibt, bin ich für immer vor ihnen sicher – oder jedenfalls für einige Monate, und dann ist ohnehin Gras über die dumme Geschichte gewachsen.
Wie Sie sich denken können, muss ich mich ganz für mich halten und darf mich weder bei öffentlichen noch bei privaten Zusammenkünften blicken lassen. In einem solchen Fall ist Schreiben eine sehr wohltuende Beschäftigung, und ich verwende täglich viele Stunden darauf, mit Sätzen zu spielen. Jeder Satz ist für mich ein Rädchen, und ich habe den Ehrgeiz, mehrere Hundert davon zu sammeln und sie da zusammenzufügen, mit ineinandergreifender Verzahnung, wie ein Getriebe, aber jedes Rad von verschiedener Größe und verschieden schneller Umdrehung. Hin und wieder versuche ich, ein sehr großes Rad mit einem sehr kleinen zu verbinden, und zwar so, dass die langsame Bewegung des großen Rades ein summendes Herumwirbeln des kleinen bewirkt. Eine äußerst knifflige Angelegenheit.
Abends singe ich oft Madrigale, aber dabei vermisse ich sehr mein Spinett.
Trotzdem fühle ich mich hier ganz wohl und habe mir alles so gemütlich gemacht wie nur möglich. Es ist ein kleines Zimmer, das höchstwahrscheinlich im ersten Abschnitt des Zwölffingerdarms liegt – gleich dahinter, in Höhe der rechten Niere, führt er senkrecht nach unten. Der Boden ist ganz eben – die erste ebene Stelle, die ich bei dem schrecklichen Absturz erreichte –, und nur deswegen gelang es mir, hier festen Fuß zu fassen. Über mir sehe ich eine Art Öffnung, die ich für den Pförtner halte, wo der Magen in den Dünndarm mündet (ich entsinne mich, dass meine Mutter mir schematische Zeichnungen der Verdauungsorgane zeigte), und unter mir ist in der Wand eine merkwürdige kleine Höhle, die Mündung des Ausführungsganges der Bauchspeicheldrüse in den Zwölffingerdarm.
Für einen konservativ eingestellten Mann wie mich ist diese Behauptung ein wenig bizarr. Eichenmöbel und Parkettfußboden wären mehr nach meinem Geschmack. Etwas aber gibt es hier, was mir so gefällt, und das sind die Wände. Sie sind wunderschön weich, wie gepolstert, sodass ich nach Herzenslust gegen sie anrennen kann, ohne mir wehzutun.
Zu meinem größten Erstaunen habe ich hier mehrere Menschen vorgefunden, zum Glück ausschließlich Männer. Aus irgendeinem Grunde tragen sie alle weiße Kittel. Sie tun sehr geschäftig und kommen sich offenbar ungemein wichtig vor. In Wirklichkeit sind sie samt und sonders erbärmliche Dummköpfe. Sie scheinen nicht einmal zu wissen, wo sie sind. Ich versuche dauernd, es ihnen zu erklären, aber sie hören einfach nicht zu. Manchmal bringen sie mich so zur Verzweiflung, dass ich meinen Gleichmut verliere und anfange zu schreien. Dann erscheint auf ihren Gesichtern ein lauernder, misstrauischer Ausdruck; sie weichen langsam zurück und sagen: «Ja, ja, nur ruhig. Nur ruhig, Herr Vikar. Nicht aufregen. Schön brav sein.»
Was soll so ein Gerede?
Aber da ist auch ein älterer Herr – er besucht mich jeden Morgen nach dem Frühstück –, der anscheinend etwas mehr in der Wirklichkeit lebt als die anderen. Er ist höflich und würdevoll, und ich glaube, er fühlt sich einsam, denn er sitzt mit Vorliebe in meinem Zimmer und hört mir zu. Ärger gibt es nur, wenn wir auf unseren Aufenthaltsort zu sprechen kommen; dann sagt er immer, er wolle mir zur Flucht verhelfen. Auch heute Morgen redete er davon, und gleich war der Streit da.
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