Die Portiere am Eingang bewegte sich, der Mann im Kanariensakko schob sich herein, immer noch mit dem Telefonhörer in der Hand. Er schnipste mit den Fingern und deutete auf meinen Tisch. Wie aus dem Boden gewachsen stand ein Kellner im schwarzen Frack und mit Fliege vor mir und hielt mir eine in Leder gebundene Speisekarte hin.
»Was darf s sein?« fragte er.
»Ich möchte nichts essen«, erwiderte ich, »aber einen kleinen Wodka hätte ich gern. Für die innere Wärme.«
»Smirnoff? Stolitschnaja? Absolut?«
»Absolut«, entschied ich. »Und dazu hätte ich gern … wie soll ich sagen … etwas Enthemmendes.«
Zweifelnd sah der Kellner mich an, drehte sich dann nach dem gelbbefrackten Türsteher um und tat eine abgefeimte Handbewegung. Der Gelbfrack nickte kurz, worauf sich der Kellner zu mir herunterbeugte und in mein Ohr wisperte:
»Psilozybin? Barbiturate? Ecstasy?«
Ein, zwei Sekunden suchte ich diese fremdartigen Kürzel gegeneinander abzuwägen.
»Ach, wissen Sie, wenn Sie mir die Ekstase im Absoluten auflösen könnten … Das wär genau das richtige.«
Noch einmal wandte sich der Kellner nach dem Gelbfrack um, hob kaum merklich die Schultern und drehte den Zeigefinger an der Schläfe. Der Türsteher verzog wütend das Gesicht und nickte erneut.
Ein Aschenbecher erschien auf meinem Tisch, dazu eine Vase mit Papierservietten. Letzteres kam mir sehr gelegen. Ich zog den Füller aus der Tasche, den ich Sherbunow stibitzt hatte, nahm eine der Servietten und wollte zu schreiben beginnen, als ich bemerkte, daß da, wo die Feder am Ende des Schreibgerätes hätte sitzen müssen, ein kleines Loch klaffte; das Ganze sah nach einem gestutzten Miniaturpistolenlauf aus. Ich schraubte den Füller auf, eine kleine Patrone mit einer schwarzen Bleikugel ohne Ummantelung fiel auf den Tisch – wie die, die man vor der Revolution mit den »Montechristo«-Kindergewehren zu kaufen bekam. Diese schlaue Erfindung kam mir nun noch gelegener – ohne den Browning in der Hosentasche hatte ich mich schon wie ein Scharlatan gefühlt. Ich setzte die Patrone sorgfältig wieder ein, schraubte den Füller zusammen und bat den blassen Bediensteten im gelben Frack, mir ein Schreibgerät zu bringen.
Der Kellner kam mit dem Tablett, auf dem ein Glas stand.
»Ihr Getränk.«
Ich kippte den Wodka hinter, bekam vom Gelbfrack einen Füllfederhalter zugesteckt und machte mich ans Werk. Zunächst wollten die Worte nicht recht fließen; nach einer Weile jedoch begannen mich die klagenden Orgeltöne zu becircen, stachelten mich an, und binnen zehn Minuten war der passende Text fertig.
Der bärtige Sänger war unterdessen von der Bühne verschwunden. Ich hatte den Moment seines Abgangs verpaßt, weil die Musik nicht aufgehört hatte. Sonderbar: Ein ganzes unsichtbares Orchester spielte, zehn Instrumente oder mehr, ohne daß irgendwelche Musiker zu sehen waren. Um ein Radio, an dessen Existenz ich mich in der Anstalt gewöhnt hatte, konnte es sich ebensowenig handeln wie um eine Grammophonaufzeichnung – der Klang war sehr rein und keinesfalls technisch reproduziert. Meine Konfusion legte sich erst, als mir der Gedanke kam, daß es wohl das vom Kellner gereichte Elixier war, das zu wirken anfing.
Ich lauschte der Musik und bekam auf einmal deutlich ein paar englische Textzeilen mit; eine heisere Stimme intonierte sie irgendwo dicht neben meinem Ohr:
… You had to stand beneath my window
with your bugle and your drum
while I was waiting for the miracle –
for the miracle to come …
Ich erschrak.
Es war das Zeichen, auf das ich gewartet hatte. Die Worte »miracle« und »drum« (was sich unmißverständlich auf Kotowski bezog) sowie »bugle« (was man nicht weiter kommentieren mußte) ließen keinen Zweifel zu. Es hatte keinen Sinn, noch länger in diesem verräucherten Saal zu hocken. Ich erhob mich und wankte durch das pulsierende Aquarium des Zuschauerraums gemächlich in Richtung Bühne.
Die Musik brach ab, was gut für mich war. Ich erklomm die Bühne, stützte mich auf das Orgelbrett, das prompt mit einer unangenehm jaulenden Note antwortete, und schaute hinunter in den erwartungsvoll verstummten Saal. Das Publikum schien sehr gemischt, doch waren, wie es in der Geschichte der Menschheit alleweil zu sein pflegt, schweinsgesichtige Spekulanten und teuer ausstaffierte Huren in der Überzahl. Die Gesichter, die ich erkennen konnte, verschmolzen zu einem einzigen, das liebedienernd und nichtsdestoweniger frech zu mir heraufsah, eine erstarrte Grimasse unterwürfiger Selbstzufriedenheit – es war, ganz ohne allen Zweifel, das Gesicht der alten Wucherin, von anderem Fleisch und Blut zwar, doch lebendig wie ehedem. Vor der Portiere am Eingang hatten ein paar Jungen in Matrosenanzügen und mit frostroten Gesichtern Posten bezogen; sie schienen mir eher kostümiert als echte Matrosen zu sein. Der kanariengelbe Bedienstete bewegte die Lippen und nickte in meine Richtung.
Ich nahm den Ellbogen vom jaulenden Manual, hielt mir die beschriebene Serviette vor die Nase, hüstelte und las, wie ich es von früher gewohnt war, ohne jede Betonung, nur mit kurzen Pausen zwischen den Quartetten:
Nimmerwiederkehr
Unstet, Formen annehmend, beständig im Abdrehen,
Am Gitter sägend das siebenhundertste Jahr,
Entweicht aus der Psychiatrie Nummer siebzehn
Ein Verrückter, der heißt noch dazu Pustota.
Zu entkommen ist gar nicht die Zeit, das weiß er –
Selbst wenn einer sagen könnte, wohin.
Und das Ärgste ist: Diesen Hosenscheißer
Pustota gibt es auch nicht, ihn zu suchen war sinn-
Los. Also: Was bleibt? Allenfalls noch die Säge.
Ihr Vorhandensein ist bestreitbar, kurzum:
Man wünscht sich, ein lila Rosenkranz läge
In Pustotas Hand, und er stellte sich dumm
Oder schlau, je nachdem. Sich festzulegen
war der größte Fauxpas
In einer Welt, die nicht da ist. Also sagt er
(statt ja oder nein): »Na ja.«
Mit diesen Worten hob ich Sherbunows Füllfederhalter und schoß auf den neumodischen Kronleuchter, jene große Weihnachtskugel. Sie barst in tausend Stücke. Unter der Decke gab es eine grelle elektrische Stichflamme, dann wurde es stockfinster. Im nächsten Augenblick blitzte auch von der Tür her, wo der Gelbfrack mit den rotbäckigen Jungen gestanden hatte, Gewehrfeuer. Ich ließ mich auf alle viere fallen und kroch langsam an der Bühnenrampe entlang. Die Schüsse dröhnten schmerzhaft in den Ohren – auch am entgegengesetzten Ende des Saales wurde jetzt geschossen, es blitzte aus mehreren Läufen gleichzeitig, funkenschlagend prallten Querschläger von der Stahltür ab, ein lustiges Silvesterfeuerwerk. Ich fand, daß es klüger war, vom Bühnenrand weg nach hinten in die Kulissen zu kriechen, und vollzog eine Wendung um neunzig Grad.
Von der Stahltür her hörte ich es stöhnen, es klang wie das Winseln eines todwunden Wolfs. Eine verirrte Kugel riß die Orgel vom Gestell, sie knallte dicht neben mir auf dem Bühnenboden auf. Schön, dachte ich, diesmal habe ich den Kronleuchter getroffen. Mein Gott! Zeit meines Lebens hatte ich nichts anderes getan, als aus einem Füllfederhalter auf die Spiegelkugel einer falschen Welt zu ballern. Welch tiefgreifende Symbolik! – und wie traurig, daß keiner der im Saal Sitzenden zu würdigen wußte, was hier geschah. Und nicht einmal das konnte man wissen.
Hinter den Kulissen war es ebenso finster wie im Saal – wahrscheinlich war der Strom auf der ganzen Etage ausgefallen. Bei meinem Erscheinen stürzte jemand über den Korridor davon, stolperte und fiel, stand nicht wieder auf, schien sich im Dunkeln zu verbergen. Ich erhob mich, streckte die Hände nach vorn und irrte den finsteren Korridor entlang. Offenbar hatte ich mir den Weg zum Hinterausgang gut gemerkt. Die Tür war verschlossen. Ich machte mich eine Weile am Schloß zu schaffen, bekam es auf und trat ins Freie.
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