»Wissen Sie, wenn man aus der Geschichte überhaupt eine Lehre ziehen kann, dann die, daß am Ende immer alle, die Rußland bekehren wollten, selber bekehrt worden sind. Und eben nicht zum Allerbesten, möchte ich behaupten.«
»Richtig. Und damit sich das nicht wiederholt, will diesmal gut überlegt sein, wie wir vorgehen müssen.«
»Ich für meine Person muß da nicht lange überlegen. Ich weiß genau, wie vorzugehen ist.«
»Ach so? Wie denn?«
»Ganz einfach. Sowie einem Rußland ins Bewußtsein tritt, als Bild und als Begriff, muß man es in seiner eigenen Natur aufgehen lassen. In dem Moment, da Rußland als Bild und als Begriff über keine eigene Natur mehr verfügt, darf man es als vollständig bekehrt betrachten.«
Der Mann sah mir forschend ins Gesicht.
»Alles klar«, sagte er. »Das täte den amerikanischen Zionisten so passen. Dafür haben sie ja eurer ganzen Generation die Hirne verkleistert.«
Das Auto fuhr wieder an und bog in die Nikitskaja ein.
»Mir ist nicht ganz klar, was Sie meinen«, sagte ich, »aber man müßte dann eben auch diese amerikanischen Zionisten bekehren.«
»Das möchte ich sehen! Wie denn?«
»Auf dieselbe Art. Ganz Amerika wird so bekehrt. Man muß überhaupt nicht erst klein-klein anfangen. Wenn bekehrt wird, dann am besten gleich die ganze Welt.«
»Warum tun Sie's dann nicht?«
»Ich hab es mir für heute vorgenommen«, verkündete ich.
Der Bart des Mannes wippte verächtlich.
»Es ist natürlich müßig zu glauben, man könnte mit euch ein vernünftiges Wort wechseln, aber immerhin solltest du wissen, daß ich diesen Blödsinn nicht zum erstenmal höre. So zu tun, als glaubte man nicht an die Realität – das ist die billigste Art und Weise, sich dieser Realität zu entziehen. Die armseligste, wenn du's genau wissen willst. Diese Welt kann einem noch so absurd vorkommen, grausam und sinnlos bis dorthinaus, aber sie ist da, ob du willst oder nicht. Sie existiert mit all ihren Problemen.«
Ich sagte nichts.
»Und deshalb zeugt alles Palavern darüber, daß die Welt eigentlich nicht existiert, nicht von edlem Geist, sondern eher vom Gegenteil. Wer an die Schöpfung nicht glaubt, beleidigt den Schöpfer.«
»Was meinen Sie mit edlem Geist?« fragte ich. »Und was den Schöpfer des Universums angeht – mit dem bin ich flüchtig bekannt.«
»Was Sie nicht sagen!«
»Jaja. Er heißt Grigori Kotowski und wohnt in Paris, und wenn ich so aus Ihrem schönen Wagenfenster gucke, muß ich annehmen, daß er immer noch kokainsüchtig ist.«
»Ist das alles, was Sie von ihm wissen?«
»Na ja … Er dürfte ein großes Pflaster am Kopf haben.«
»Aha. Darf man fragen, aus welcher psychiatrischen Anstalt Sie kommen?«
Ich dachte nach.
»Ich glaube, aus Nummer 17. Doch, da hing ein blaues Schild an der Tür mit der Zahl 17 drauf. ›Objekt der vorbildlichen Sauberkeit und Hygiene‹ stand darunter.«
Der Wagen bremste.
Ich schaute nach draußen. Wir standen vor dem Konservatorium. Die »Spieldose« konnte nicht weit sein.
»Wissen Sie was«, sagte ich, »wir fragen am besten jemanden.«
»Ich fahre Sie nicht weiter«, sagte der Mann. »Steigen Sie aus, und scheren Sie sich zum Teufel.«
Ich zuckte die Schultern, öffnete die Tür und stieg aus. Das tropfenförmige Automobil rollte in Richtung Kreml davon. Daß mein Versuch, offen und ehrlich zu sein, auf so wenig Gegenliebe gestoßen war, kränkte mich. Im übrigen hatte ich, als wir an der Ecke des Konservatoriums vorfuhren, den bärtigen Herrn mitsamt seinen Teufeln längst vollständig bekehrt.
Ich versuchte mich zu orientieren. Eine der Straßen kam mir entschieden bekannt vor. Ich lief vielleicht fünfzig Meter hinein, bis mir eine Seitenstraße nach rechts auffiel – und gleich darauf erblickte ich die Einfahrt, vor der Grigori von Ernens Wagen in jener denkwürdigen Winternacht geparkt hatte. Sie sah exakt so aus wie damals, nur der Anstrich der Fassade schien sich geändert zu haben. Und vor der Einfahrt standen diesmal etliche Wagen verschiedenster Formen und Farben.
Im Nu hatte ich den unglaublich deprimierenden Hinterhof durchquert und stand vor der gewissen Tür – über ihr nun ein futuristisch anmutendes Vordach aus Glas und Stahl. An ihm hing ein kleines Schild:
ИВАН БЬIК
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Mehrere Fenster neben der Tür waren erleuchtet, die rosaroten Vorhänge dahinter halb heruntergelassen. Der schwermütige und doch etwas mechanisch wirkende Klang eines fremdartigen Instruments drang heraus.
Ich zog die Tür auf. Dahinter lag ein kurzer Gang, der voller schwerer Pelze und Mäntel hing; an seinem Ende eine überraschend massive Stahltür. Ein Mann mit Verbrechergesicht erhob sich von seinem Schemel und eilte auf mich zu; er trug ein kanariengelbes Jackett mit goldenen Knöpfen und in der Hand eine seltsame Art Telefonhörer mit gekappter Leitung, das Schnurende nicht länger als ein Zoll. Ich hätte schwören können, daß er eben noch in diesen Hörer hineingesprochen hatte – vor Aufregung wippte er mit dem Fuß und hielt den Hörer verkehrt herum, das Schnurende nach oben. Diese kindliche Fähigkeit, zu spielen und dabei die Welt um sich her zu vergessen, die man bei einem Grobian wie ihm schwerlich vermutet hätte, war rührend und weckte in mir etwas wie Sympathie.
»Eintritt nur für Klubmitglieder«, sagte er.
»Hören Sie, ich bin erst vor kurzem mit zwei Bekannten hiergewesen, erinnern Sie sich nicht? Von denen haben Sie eins mit dem Gewehrkolben in den Bauch gekriegt.«
Auf dem bösen Gesicht des kanariengelben Mannes malten sich Abscheu und Überdruß.
»Sie erinnern sich?« hakte ich nach.
»Allerdings«, sagte er. »Wir haben übrigens schon bezahlt.«
»Um Geld geht's nicht«, erläuterte ich. »Ich möchte gern ein halbes Stündchen bei Ihnen reinschauen. Nicht länger, glauben Sie mir.«
Mit gequältem Lächeln öffnete der Kanarienvogel die Stahltür, hinter der eine weinrote Samtportiere zum Vorschein kam; er schlug sie zurück, und ich trat in den schummrigen Saal.
Auch hier hatte sich wenig verändert. Die Lokalität machte immer noch den Eindruck eines durchschnittlichen Mittelklasserestaurants, das einen gewissen Schick für sich in Anspruch nahm. An den kleinen, quadratischen Tischen saß in dichten Rauchschwaden ein recht buntes Publikum. Irgendwer schien Haschisch zu rauchen. Anstelle des Kronleuchters hing von der Decke ein großes, rundes, seltsames Etwas, das sich langsam drehte und eine Vielzahl blasser, kleiner Lichtreflexe, wie man sie aus Vollmondnächten kennt, durch den Saal wandern ließ. Auf mich achtete niemand; ich nahm an einem leeren Tischchen unweit des Eingangs Platz.
Vorn im Saal gab es eine hellerleuchtete Bühne. Dort oben stand ein Mann mittleren Alters hinter einem kleinen Orgelmanual und sang. Ein schwarzer Rauschebart wucherte ihm im breiten, knochigen Gesicht, und seine Stimme klang gräßlich:
Du sollst nicht töten? Laß ich die halt leben
Du sollst nicht lügen? Sag ich die Wahrheit eben
Du sollst nicht geizen? Mein letztes Hemd
geb ich mit Freuden her
Du sollst nicht stehlen? – Macht der's mir aber schwer!
Das war der Refrain. Offensichtlich handelte das Lied von den christlichen Geboten, jedoch unter recht merkwürdigem Blickwinkel. Der Gesangsstil, den ich ebenso merkwürdig fand, schien den Anwesenden im Saal vertraut zu sein – jedesmal, wenn der Sänger an die rätselhafte Stelle »Macht der's mir aber schwer!« kam, brach unten im Saal tosender Beifall los, und der Sänger verbeugte sich dezent, während seine Riesenfinger weiter über die Tasten glitten.
Mich beschlich ein tristes Gefühl. Ich hatte immer viel auf meine Fähigkeit gehalten, den neuesten Kunstströmungen etwas abgewinnen zu können und hinter der zugespitzten, schockierenden äußeren Form das Ewige und Konstante zu erkennen; hier aber war die Kluft zwischen dem, was ich kannte, und dem, was ich sah, unerhört groß. Freilich mochte es dafür eine simple Erklärung geben: Es hieß, daß Kotowski vor seiner Bekanntschaft mit Tschapajew eine fast kriminell zu nennende Vergangenheit gehabt hatte. Von daher war es nicht verwunderlich, wenn ich die Chiffren dieser obskuren Kultur nicht zu deuten wußte; sie hatten mich ja auch in der Irrenanstalt schon einmal in die Sackgasse geführt.
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