»Was für ein Fragebogen?«
»Reine Formsache«, sagte der Professor. »Im Gesundheitsministerium sitzen eine Menge Beamte herum und denken sich immerzu etwas Neues aus. Hier handelt es sich um den sogenannten Test zum Nachweis der sozialen Adäquanz. Er beinhaltet die verschiedensten Fragen mit je einer Auswahl möglicher Antworten dazu. Eine davon ist zutreffend, die anderen sind absurd. Jeder normale Mensch weiß sofort Bescheid.«
Er blätterte den Fragebogen durch. Es mußten an die zwanzig, dreißig Seiten sein.
»Eine bürokratische Angelegenheit, zweifellos, wir kriegen eben auch unsere Rundschreiben. Der Bogen ist Vorschrift für jeden Entlassungsfall. Und da ich keinen Grund sehe, Sie noch länger hierzubehalten – da ist ein Stift. Frisch ans Werk!«
Ich nahm ihm die Zettel ab und setzte mich an den Tisch. Der Professor wandte sich diskret seinem Bücherschrank zu und zog irgendeinen Folianten hervor.
Der Fragebogen umfaßte mehrere Teile: »Kultur«, »Geschichte«, »Politik« und noch einige andere. Ich schlug aufs Geratewohl den Abschnitt »Kultur« auf und las:
32. In welchem Film vertreibt der Hauptheld am Ende die Bösen, indem er ein großes Kreuz über dem Kopf schwenkt?
a) Alexander Newski
b) Jesus von Nazareth
c) Ludwig II.
33. Welcher der aufgeführten Namen symbolisiert das Gute und Allmächtige?
a) Arnold Schwarzenegger
b) Sylvester Stallone
c) Jean-Claude van Damme
Bemüht, meine Ratlosigkeit zu verbergen, überblätterte ich etliche Seiten und wechselte in den Abschnitt zur »Geschichte«:
74. Auf welches Objekt schoß der Kreuzer »Aurora«?
a) auf den Reichstag
b) auf den Panzerkreuzer »Potjomkin«
c) auf das Weiße Haus
d) Die vom Weißen Haus haben angefangen
Unversehens hatte ich jene schrecklich finstere Oktobernacht vor Augen, als die »Aurora« in der Newamündung auftauchte. Mit hochgeschlagenem Kragen stand ich auf der Brücke, zog nervös an meiner Zigarette und sah die schwarze Silhouette des Kreuzers langsam näher kommen: Kein einziges Licht an Deck war zu sehen, nur an den Enden der dünnen Stahlmasten ein schwacher, flimmernder Schein. Zwei späte Passantinnen – eine bildschöne Gymnasiastin in Begleitung ihrer Gouvernante, letztere vom Umfang her einer Litfaßsäule ähnelnd – blieben neben mir stehen.
»Look at it, Missis Brown!« juchzte das Mädchen und wies mit dem Finger auf das düstere Schiff. »This is Saint Elmo's fires!«
»You are mistaken, Katya«, erwiderte die Gouvernante mit gedämpfter Stimme. »There is nothing saintly about this ship.« Sie warf einen schrägen Blick zu mir herüber. »Let's go«, sagte sie dann. »Standing here could be dangerous.«
Ich schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen zu verscheuchen, und blätterte noch ein paar Seiten weiter:
102. Wer ist der Schöpfer des Universums?
a) Gott
b) Das Komitee der Soldatenmütter
c) Ich
d) Kotowski
Ich legte die Blätter akkurat aufeinander und sah aus dem Fenster. Dort war der verschneite Wipfel einer Pappel zu sehen, mit einer Krähe darin. Wenn sie das Standbein wechselte, rieselte von dem Zweig, auf dem sie hockte, der Schnee. Jetzt heulte unten ein Motor auf und verscheuchte den Vogel. Mit schwerem Flügelschlag schwang er sich in die Luft und flog weg – ich blickte ihm nach, bis er zu einem schwarzen Punkt zusammengeschrumpft war, so winzig, daß er sich nur mehr ahnen ließ. Langsam wandte ich den Kopf und begegnete dem gespannten Blick des Professors.
»Sagen Sie, wozu soll dieser Fragebogen eigentlich gut sein?« fragte ich. »Was hat er für einen Zweck?«
»Kann ich selbst nicht genau sagen«, erwiderte der Professor. »Obwohl ein gewisser Sinn natürlich erkennbar ist. Manche Patienten sind so gewitzt, daß sie auch den erfahrenen Arzt um den Finger zu wickeln vermögen. Sagen wir, der Fragebogen ist auf den Fall hin ausgelegt, daß Napoleon zur Abwechslung mal zugibt, geisteskrank zu sein, nur um die Klinik verlassen und seine ›Hundert Tage‹ angehen zu können.«
In den Augen des Professors blitzte etwas auf, das man als Schreck hätte deuten können; er senkte sogleich die Lider.
»Obwohl«, sagte er und kam rasch auf mich zu, »eigentlich haben Sie recht. Ich merke gerade, daß ich Sie immer noch wie einen Kranken behandle. Anscheinend traue ich mir selber nicht ganz. Das ist furchtbar dumm, eine Berufskrankheit.«
Er nahm mir den Fragebogen aus der Hand, riß ihn mittendurch und warf ihn in den Papierkorb.
»Sie können packen«, sagte er und drehte sich zum Fenster. »Die Entlassungspapiere sind schon fertig. Sherbunow bringt Sie zur Bahnstation. Für den Notfall haben Sie ja meine Nummer.«
Die dunkelblauen Baumwollhosen und der schwarze Pullover, die Sherbunow mir aushändigte, rochen nach Staub und Kleiderkammer; am meisten mißfiel mir, daß die Hosen zerknittert und mit irgend etwas bespritzt waren. Wie Sherbunow behauptete, gab es im Wirtschaftstrakt der Klinik kein einziges Bügeleisen.
»Wir sind hier keine Wäscherei«, sagte er giftig, »und kein Kulturministerium.«
Ich zog die hohen Schnürschuhe mit der Riffelsohle an, setzte die runde Pelzmütze auf. Der graue Lodenmantel wäre vielleicht sogar elegant gewesen, hätte ihn nicht ein Brandloch am Rücken verunziert.
»Wird dir einer von deinen Saufkumpanen die Kippe aufgedrückt haben«, stellte Sherbunow Vermutungen an, während er eine giftgrüne Kapuzenjacke überzog.
Derlei freche Kommentare hatte man auf Station nie von ihm zu hören bekommen. Doch sie kratzten mich wenig, klangen mir im Gegenteil wie Engelstrompeten in den Ohren, denn sie signalisierten die Freiheit. Im Grunde waren sie auch nicht frech gemeint, es war einfach Sherbunows Art, mit den Leuten zu reden. Umgangsregeln, wie ein dienstlicher Ethos sie einforderte, mußten an mir nicht mehr befolgt werden – ich war für Sherbunow kein Patient mehr und er für mich kein Pfleger. Alles, was uns zuvor verbunden hatte, war mitsamt dem weißen Kittel an einem krummen Nagel in der Wand hängengeblieben.
»Und mein Koffer?« fragte ich.
Er machte große Augen, so als wüßte er nicht, wovon ich redete.
»Von einem Koffer weiß ich nichts«, sagte er. »Mußt du den Professor fragen. Hier ist dein Portemonnaie, zwanzigtausend waren drin, sieh nach.«
»Schon gut«, sagte ich. »Auf die Wahrheit braucht man hier sowieso nicht zu hoffen.«
»Wär ja auch noch schöner.«
Zu streiten hatte keinen Zweck. Es war dumm gewesen, überhaupt davon anzufangen. Ich tröstete mich damit, daß es mir gelang, heimlich einen Füllfederhalter aus seiner Jackentasche zu ziehen.
Die Türen zur Freiheit öffneten sich so sang- und klanglos, daß ich fast enttäuscht war. Vor mir lag der leere, zugeschneite Hof, von einer Betonmauer umgeben, und genau gegenüber das große, grüne, merkwürdigerweise mit roten Sternen verzierte Metalltor. Daneben die Pförtnerloge, aus deren Schornstein schwacher Rauch aufstieg. All dies hatte ich oft genug durch das Fenster gesehen. Ich ging die Stufen hinunter und warf einen Blick zurück auf das gesichtslose weiße Klinikgebäude.
»Sagen Sie, Sherbunow, welches Fenster gehört zu unserem Zimmer?«
»Dritter Stock, das zweite von außen. Da, siehst du, sie winken dir.«
Tatsächlich sah ich in dem Fenster die Umrisse zweier Männer, einer preßte die erhobene Hand gegen die Scheibe. Ich winkte zurück. Sherbunow riß mich ziemlich grob am Ärmel.
»Komm. Du verpaßt den Zug.«
Ich drehte mich um und ging mit ihm zum Tor.
In der Bude des Pförtners war es eng und stickig. Der Diensthabende – er trug eine grüne Schirmmütze mit Kokarde, darauf zwei gekreuzte Gewehre – saß hinter einem Schalter; davor gab es die aus einem grüngestrichenen Eisenrohr bestehende Andeutung eines Schlagbaums. Lange studierte der Mann die Papiere, die Sherbunow ihm hingeschoben hatte; sein Blick ging einige Male zwischen mir und meinem Paßfoto hin und her, er wechselte mit Sherbunow ein paar leise Sätze, dann tat sich der Schlagbaum auf.
Читать дальше