Nun, das Volk der Menschen überlebte diese dunklen Tage ebenfalls, und da die magische Energie mit dem Stoff der Welt verwoben war, begannen auch sie bald an den Toren der Realität zu kratzen. Sie beschworen Kreaturen aus der Großen Dunkelheit und klopften an den verschlossenen Türen zu Sargeras’ Gefängnis. Doch dann traten die Kaldorei, die überlebt und sich verändert hatten, vor und gaben die Geschichte ihrer Vorfahren preis – wie sie beinahe die Welt vernichtet hatten.
Die ersten menschlichen Magier dachten über die Worte der überlebenden Kaldorei nach. Sie erkannten, dass, sollten sie ihre Zauberstäbe, Phiolen und Pergamentrollen niederlegen, andere – ob voller Unschuld oder nicht – nach Wegen suchen würden, um den Dämonen ein weiteres Mal Zugang zu unserem grünen Land zu verschaffen. Und so setzten die mächtigsten Magier den Orden als Geheimbund fort. Der Orden von Tirisfal ernannte eines seiner Mitglieder zum Wächter des Tirisfalen. Dieser Wächter erhielt die größte Macht und wurde zum Beschützer der Realität. Doch zu diesem Zeitpunkt war das Tor zur anderen Seite kein einzelner Brunnen der Macht mehr, sondern ein unendlicher Regen, der bis heute fällt. Das ist die größte Verantwortung der Welt.«
Medivh wurde still, und seine Augen verloren kurz ihre Konzentration, so als sei er selbst in die Vergangenheit gerissen worden. Dann schüttelte er den Kopf und kehrte zu sich selbst zurück, ohne etwas zu sagen.
»Ihr seid der Wächter«, sagte stattdessen Khadgar ruhig.
»Ja«, erwiderte Medivh endlich. »Ich bin der Sohn der größten Wächterin aller Zeiten und erhielt ihre Macht kurz nach meiner Geburt. Es war … zu viel für mich, und ich bezahlte dafür mit einem Großteil meiner Jugend.«
»Aber Ihr sagtet, die Magier würden einen der ihren erwählen«, sagte Khadgar. »Hätte Magna Aegwynn keinen älteren Kandidaten bestimmen können? Wieso hat sie ein Kind, vor allem ihr Kind, dazu erkoren?«
Medivh holte tief Luft. »Die ersten Wächter wurden während der ersten tausend Jahre aus der erwählten Gruppe bestimmt. Die Existenz des Ordens blieb ein Geheimnis, so wie es die Gründer gewollt hatten. Nach einiger Zeit jedoch begannen Politik und persönliche Interessen eine Rolle zu spielen, sodass die Wächter bald nicht mehr als Diener waren, magische Wachhunde. Einige der mächtigen Magier glaubten, es sei Aufgabe des Wächters, allen anderen die Macht vorzuenthalten, die sie selbst genossen. Wie schon zu Zeiten der Kaldorei fiel der Schatten der dunklen Macht über die Mitglieder des Ordens. Dämonen gelangten häufiger in unsere Welt, und selbst Sargeras gelang es, kleine Teile seiner selbst zu manifestieren. Es war nur ein Bruchteil seiner Macht, aber es reichte aus, um Armeen zu zerschlagen und Nationen zu vernichten.«
Khadgar dachte an das Bild von Sargeras, das Aegwynn in der Vision bekämpft hatte. War das wirklich nur ein Bruchteil der wahren Macht dieses mächtigen Dämons gewesen?
»Magna Aegwynn …«, begann Medivh und unterbrach sich. Es war, als sei er nicht daran gewöhnt diese Worte auszusprechen. »Die, die mich gebar, war selbst fast tausend Jahre zuvor geboren worden. Sie war sehr talentiert und wurde von den anderen Mitgliedern des Ordens zur Wächterin bestimmt. Ich glaube, die Grauesten der Graubärte dachten damals, sie könnten sie kontrollieren und die Wächterin weiterhin als Schachfigur in ihren eigenen politischen Spielzügen einsetzen.
Sie überraschte sie.« Medivh lächelte. »Sie ließ sich nicht manipulieren und kämpfte sogar gegen einige der größten Magier ihrer Zeit, als diese unter dämonischen Einfluss gerieten. Manche dachten, ihre Unabhängigkeit würde mit der Zeit vergehen und dass sie, wenn ihre Zeit gekommen war, die Aufgabe an einen einfacheren Kandidaten weiterreichen würde. Erneut überraschte sie die anderen, indem sie ihre eigene Magie benutzte, um tausend Jahre unverändert zu leben. Sie benutzte ihre Macht mit Weisheit und Würde. Und so spaltete sich die Wächterin vom Orden ab. Der Orden kann dem Wächter Vorschläge machen, doch Letzterer hat das Recht Ersteren jederzeit herauszufordern, damit sich das Schicksal der Kaldorei nicht wiederholt.
Tausend Jahre kämpfte sie gegen die Große Dunkelheit und forderte selbst den körperlichen Aspekt von Sargeras heraus, der auf diese Existenzebene gelangt war. Er wollte die mythischen Drachen vernichten, um deren Macht zu vereinnahmen. Magna Aegwynn traf ihn und siegte. Sie sperrte seinen Körper an einen Ort, den niemand kennt, und trennte ihn auf ewig von der Großen Dunkelheit, aus der er seine Macht zieht. Das alles steht in dem epischen Gedicht ›Das Lied von Aegwynn‹, nach dem Guzbah sucht. Sie konnte das nicht auf ewig, aber es muss immer einen Wächter geben.
Und dann …« Wieder unterbrach sich Medivh. »Sie hatte jedoch noch einen Trumpf im Ärmel. Sie war zwar mächtig, aber nicht unsterblich. Man erwartete, dass sie ihre Macht weitergeben würde. Stattdessen benutzte sie einen Zauberer vom Hof von Azeroth, um einen Erben zu zeugen. Dieses Kind ernannte sie zu ihrem Nachfolger. Sie bedrohte den Orden und sagte, sie würde ihre Macht mit in den Tod nehmen und verhindern, dass es einen weiteren Wächter gebe, sollte man ihre Wahl nicht akzeptieren. Der Orden glaubte, es wäre vielleicht einfacher, ein Kind zu manipulieren … mich zu manipulieren … und so stimmte er zu.
Doch die Macht war zu groß. Als ich ein junger Mann war, jünger als du, erwachte sie in mir, und ich schlief mehr als zwanzig Jahre lang. Magna Aegwynn hatte so viel von ihrem Leben, und ich scheine das Meiste von meinem verloren zu haben.« Seine Stimme zitterte. »Magna Aegwynn … meine Mutter …«, setzte er erneut an, bemerkte jedoch, dass er nichts mehr zu sagen hatte.
Khadgar saß für einen Moment ruhig da. Dann streckte sich Medivh, fuhr sich durch die langen Haare und sagte: »Und während ich schlief, schlich sich das Böse zurück in die Welt. Es gibt jetzt mehr Dämonen, mehr Orks. Und Mitglieder meines eigenen Ordens schreiten wieder den dunklen Weg hinab. Ja, Huglar und Hugarin waren Mitglieder des Ordens, so wie schon andere vor ihnen – so wie auch der uralte Arrexis von den Kirin Tor. Ja, etwas Ähnliches geschah mit ihm, und obwohl sie es damals vertuscht haben, hast du wahrscheinlich etwas davon gehört. Sie fürchteten sich vor der Macht meiner Mutter und vor mir, und ich habe dafür gesorgt, dass ihre Furcht sie nicht vernichtet. Dies ist die Aufgabe des Wächters von Tirisfal.«
Der ältere Mann sprang auf. »Ich muss gehen!«
»Gehen?«, sagte Khadgar. Er war überrascht über den plötzlichen Energieausbruch dieses hageren Körpers.
»Wie du schon so richtig bemerkt hast, treibt sich ein Dämon herum«, sagte Medivh, nun wieder lächelnd. »Stoße ins Horn des Jägers. Ich muss ihn finden, bevor er seine Stärke zurückgewinnt und andere umbringt.«
Khadgar richtete sich auf. »Wo fangen wir an?«
Medivh drehte sich um und sah den jüngeren Mann etwas verlegen an. »Nun, wir fangen nirgendwo an. Ich werde allein gehen. Du bist talentiert, aber noch längst nicht bereit für den Kampf gegen einen Dämon. Dies ist meine Schlacht, Schüler.«
»Magus, ich bin sicher, dass ich …«
Medivh hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Ich brauche dich hier, damit du deine Ohren offen hältst«, sagte Medivh leise. »Ich zweifle nicht daran, dass der alte Lothar die letzten zehn Minuten mit dem Ohr an der Tür verbracht hat. Es würde mich nicht wundern, wenn sich ein Abdruck des Schlüssellochs auf seiner Wange befände.« Medivh grinste. »Er weiß einiges, aber nicht alles. Deswegen musste ich dir davon erzählen. Ich brauche einen Wächter für den Wächter, wenn du so willst.«
Khadgar sah Medivh an, und der ältere Magier zwinkerte ihm zu. Dann ging er zur Tür und riss sie mit einer schnellen Bewegung auf.
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