Medivh hob eine Hand. »Ihr müsst leider ohne mich feiern. Wir sollten zurückkehren. Es liegt ein langer Weg vor uns, nicht wahr, Schüler?«
Lothar sah Khadgar erneut forschend an. Medivh wirkte gefasst, aber erschöpft. Er schien sich dieses Mal Khadgars Unterstützung versichern zu wollen.
Der junge Magier hüstelte. »Natürlich. Wir müssen noch ein Experiment abschließen.«
»Genau!« Medivh fing den Ball auf. »Wir waren so in Eile, hierher zu kommen, dass ich das ganz vergessen hatte. Wir sollten uns beeilen.« Der Magus drehte sich um und wandte sich an die versammelte Dienerschaft. »Sattelt unsere Tiere! Wir reisen sofort ab.« Die Diener liefen wie aufgeschreckte Hühner durcheinander. Medivh wandte sich wieder an Lothar. »Du wirst uns natürlich bei Seiner Majestät entschuldigen?«
Lothar sah Medivh an, dann Khadgar, dann wieder Medivh. Schließlich seufzte er und sagte: »Natürlich. Lass mich euch aber wenigstens aus dem Turm geleiten.«
»Begleite uns«, sagte Medivh. »Und vergiss den Kopf nicht. Ich würde ihn selbst behalten, aber so einen habe ich schon.«
Lothar griff nach dem gehörnten Schädel und ging an Medivh vorbei. Als er an den Magus passiert hatte, schien aus dessen Körper die Luft zu entweichen. Er wirkte müder als zuvor, grauer als noch vor wenigen Momenten. Er stieß einen schweren Seufzer aus und wandte sich ebenfalls zur Tür.
Khadgar eilte ihm nach und fasste ihn am Ellenbogen. Es war nur eine leichte Berührung, aber der ältere Magus zuckte zusammen, als habe man ihn geschlagen. Er drehte sich zu Khadgar um. Seine Augen wurden für einen Moment glasig, dann sah er den jüngeren Mann an.
»Magus«, sagte Khadgar.
»Was ist jetzt?«, fragte Medivh in zischendem Flüsterton.
Khadgar dachte nach, was er darauf erwidern konnte, ohne den Zorn des Magus zu erregen. »Es geht Euch nicht gut«, sagte er schließlich.
Es war die richtige Reaktion. Medivh nickte schwerfällig und sagte: »Mir ging es schon besser. Lothar weiß das vermutlich auch, aber er spricht mich nicht darauf an. Ich wäre lieber zuhause als hier.« Er machte eine kurze Pause, und seine Lippen bildeten einen dünnen Strich unter seinem Bart. »Ich war hier sehr lange krank. Dieses Experiment will ich nicht wiederholen.«
Khadgar sagte nichts, nickte nur. Lothar stand jetzt wartend neben der Tür.
»Du musst mich auf dem Weg nach Karazhan stützen«, sagte Medivh an Khadgar gewandt, sodass es die Umstehenden hören konnten. »Das Stadtleben verlangt einem Mann viel ab. Ich könnte jetzt ein Nickerchen vertragen.«
»Das ist sehr wichtig«, sagte Medivh. Er taumelte leicht, als er vom Rücken des Greifs stieg, wirkte erschöpft. Khadgar nahm an, dass ihm der Kampf gegen den Dämon schwerer gefallen war, als Medivh zu erkennen geben wollte.
»Ich werde für einige Tage … nicht erreichbar sein«, fuhr der ältere Magier fort. »Sollten während dieser Zeit Boten eintreffen, musst du auf meine Korrespondenz achten.«
»Das ist kein Problem«, sagte Khadgar.
»Das ist ein Problem«, sagte Medivh, während er die Stufen hinabging. »Deshalb muss ich dir erklären, wie man die Briefe mit dem Purpursiegel liest. Ein Purpursiegel steht für Angelegenheiten des Ordens.«
Khadgar schwieg und nickte.
Medivh rutschte auf den Stufen aus, stolperte und fiel nach vorne. Khadgar wollte nach ihm greifen, aber der ältere Mann stützte sich bereits an der Wand ab und zog sich nach oben. Ohne merkliche Unterbrechung fuhr er fort: »In der Bibliothek gibt es eine Schriftrolle, die ›Das Lied von Aegwynn‹ heißt. Darin wird vom Kampf zwischen meiner Mutter und Sargeras berichtet.«
»Das ist die Schriftrolle, von der Guzbah eine Kopie wollte«, sagte Khadgar. Er musterte den Magier besorgt, während dieser vor ihm die Stufen hinabschlurfte.
»Genau die«, sagte Medivh. »Deshalb kann er sie nicht bekommen – wir benutzen sie als Verschlüsselung für die Botschaften des Ordens. Sie ist der Hauptschlüssel. Jedes Mitglied des Ordens besitzt eine identische Schriftrolle. Wenn man das Standardalphabet nimmt, muss man einfach nur alle Buchstaben nach unten schieben, sodass der erste zum vierten oder zehnten oder zwanzigsten wird. Es ist ein einfacher Schlüssel. Verstehst du das?«
Khadgar wollte antworten, dass er es verstand, aber Medivh ließ ihm keine Zeit, schien es eilig mit seinen Erklärungen zu haben.
»Die Schriftrolle ist der Schlüssel«, wiederholte er. »Am Anfang der Botschaft befindet sich etwas, das wie ein Datum aussieht. Es ist aber keins. Es ist der Hinweis auf den Absatz, die Zeile und das Wort, mit dem du beginnst. Der erste Buchstabe des Worts wird zum ersten Buchstaben des Alphabets in der Verschlüsselung. Von da an geht es normal weiter. Der nächste Buchstabe in der Reihenfolge ist also der zweite Buchstabe des Alphabets und so weiter.«
»Ich verstehe.«
»Nein, das tust du nicht«, sagte Medivh gehetzt und müde. »Das ist nur die Verschlüsselung für den ersten Satz. Wenn du am Punkt ankommst, musst du zum zweiten Buchstaben des Worts übergehen. In diesem Satz steht er für den ersten Buchstaben des Alphabets. Die Satzzeichen bleiben wie sie sind. Zahlen ebenso, aber die Regel besagt, dass man sie ausschreiben soll. Da ist noch mehr, aber es fällt mir nicht ein.«
Sie hatten Medivhs persönliches Quartier erreicht. Moroes war bereits dort. Er trug eine Robe über einen Arm gehängt. Eine mit einem Deckel versehene Schüssel stand auf einem kunstvoll verzierten Tisch. Selbst in der Tür stehend konnte Khadgar die Suppe riechen, die sich in dem Gefäß befand.
»Was mache ich, wenn ich die Nachricht entschlüsselt habe?«, fragte er.
»Genau!«, antwortete Medivh, als habe er eine wichtige Erkenntnis gewonnen. »Verzögerung. Verzögern ist vor allem anderen geboten. In ein oder zwei Tagen sollte ich mich wieder selbst darum kümmern können. Lass dir etwas einfallen, um sie zu vertrösten. Ich bin geschäftlich unterwegs, werde bald zurückkehren. Benutze die gleiche Verschlüsselung, aber achte darauf, dass du sie als Datum kennzeichnest. Wenn alles andere scheitert, delegiere. Sage dem Briefschreiber, wer auch immer es sein mag, er möge nach eigenem Gutdünken handeln und dass ich ihm so bald wie möglich helfen werde. Das gefällt ihnen immer. Sage nicht , dass es mir nicht gut geht – das letzte Mal, als ich diesen Fehler beging, tauchte eine ganze Horde von Möchtegern-Klerikern auf, um sich um meine Bedürfnisse zu kümmern. Einige silberne Löffel sind seit diesem Besuch nie wieder aufgetaucht.«
Der alte Magier holte tief Luft und stützte sich schwer am Türrahmen ab. Moroes bewegte sich nicht, aber Khadgar trat einen Schritt vor.
»Der Kampf gegen den Dämon …«, sagte er. »Es war schlimm, oder?«
»Es gab Schlimmere. Dämonen! Krummschultrige, hammelköpfige Schläger. Zu gleichen Teilen Schatten und Feuer. Mehr Bestie als Mensch und widerwärtiger als beide. Gefährliche Krallen. Auf die Krallen muss man aufpassen.« Khadgar nickte. »Wie habt Ihr ihn besiegt?«
»Die Lebensessenz wird normalerweise durch schwere Verletzungen vernichtet«, sagte Medivh. »In diesem Fall habe ich ihm den Kopf abgeschlagen.« Khadgar blinzelte. »Ihr hattet kein Schwert.« Medivh lächelte schwach. »Sagte ich, dass ich ein Schwert brauche? Genug. Weitere Fragen, sobald es mir besser geht.« Mit diesen Worten betrat er das Zimmer, und der ewig loyale Moroes schloss vor Khadgar die Tür. Das letzte Geräusch, das der junge Magier hörte, war das erschöpfte Stöhnen des alten Mannes, der sich endlich ausruhen konnte.
Eine Woche verging, doch Medivh war nicht wieder aus seinem Quartier heraus gekommen. Jeden Tag schlurfte Moroes mit einer Schüssel voll Suppe nach oben. Schließlich hatte Khadgar genügend Mut gesammelt, um selbst nach Medivh zu sehen. Der Verwalter protestierte nicht, reagierte auf seine Gegenwart nur mit einem knappen Grunzen.
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