Perenolde hatte natürlich darauf bestanden, jeden der vorgebrachten Alternativvorschläge im Detail zu prüfen. Erst nachdem Proudmoore und Trollbane kurz davor standen, Graymane Feigheit vorzuwerfen, stimmte der stämmige Mann endlich darin überein, dass die Armee ihr einziger Rückhalt war.
Am zweiten Tag war es ähnlich weitergegangen. Sie hatten sich auf den Krieg verständigt, doch nun mussten sie die logistische Zusammenarbeit koordinieren. Welche Armee würde welche Truppen bereitstellen? Wo wurden sie stationiert, wie wurden sie versorgt?
Alles Fragen, mit denen Lothar sich seit Jahren auseinandersetzte, allerdings nur auf eine Armee bezogen. Doch jetzt musste er fünf unter einen Hut bekommen. Und dabei waren die Überlebenden von Stormwind noch gar nicht berücksichtigt.
Jeder König hatte eigene Vorschläge und eigene Vorgehensweisen. Und natürlich war die wichtigste Frage, wer das Kommando übernehmen sollte.
Jeder König schien sich selbst für den besten Anführer einer vereinigten Armee zu halten. Terenas führte an, dass Lordaeron das größte Königreich mit den meisten Soldaten sei. Außerdem sei er es gewesen, der sie alle zusammengerufen habe.
Trollbane war der Meinung, dass er über die größte Kampferfahrung verfügte. Und wenn Lothar sich den rauen Bergkönig betrachtete, glaubte er ihm das sogar.
Proudmoore erwähnte die Macht seiner Marine und die Bedeutung von Schiffen als Truppen- und Nachschubtransporter.
Graymane gehörte das südlichste Königreich. Er war der Ansicht, dass er das Kommando führen sollte, weil sein Land das erste sein würde, das die Orcs angriffen, wenn sie über Land kamen – auch wenn das nicht ganz stimmte, denn Stromgarde lag noch eher auf dem Weg der Horde, falls diese von Khaz Modan nach Dun Modr vorrückte.
Perenolde führte aus, dass reine Gewalt allein nicht ausreichen würde, sondern dass der Oberkommandierende auch über Klugheit, Weisheit und Weitsicht verfügen sollte – was er natürlich im Überfluss vorweisen konnte.
Und dann gab es da noch die beiden, die eigentlich keine Könige waren, aber echte Anführer: Erzbischof Faol, dessen Glaubensanhänger die meisten Menschen in allen Königreichen umfassten, und Erzmagier Antonidas, der zwar nur über eine Stadt herrschte, aber deren Bewohnern Kräfte innewohnten, die es an Stärke mit jeder Armee aufnehmen konnten.
Glücklicherweise waren die beiden Männer – der eine klein und freundlich, der andere groß und ernst – nicht am Oberkommando über die vereinigte Armee interessiert. Beide nutzten ihren Einfluss dankenswerterweise vielmehr, um mäßigend auf die anderen Parteien einzuwirken. Dabei machten sie klar, dass die Horde kommen würde, ganz egal, ob eine Armee bereitstand, gegen sie anzutreten oder nicht. Und sie erinnerten die Monarchen daran, dass eine Armee ohne Anführer völlig nutzlos war, ganz egal, wie groß sie war.
Lothar hatte die Diskussion mit einer Mischung aus Belustigung und Schrecken verfolgt. Seine Bestürzung schien die Oberhand zu erringen, als er immer öfter in die Gespräche miteinbezogen wurde. Zeitweilig diente er als Experte in Orc-Fragen. Dann wieder war man an seiner Meinung als Außenstehender interessiert. Sehr selten hatten sie ihm auch einmal die entscheidende Stimme zugestanden, wobei sie raffiniert darauf hinwiesen, dass seine Familie der eigentliche Herrscher dieses Landes gewesen war und er deshalb einige angestammte Rechte besaß.
Die Hälfte der Zeit konnte Lothar nicht sagen, ob sie ihn verspotteten oder anhimmelten. Er wusste, dass einige der Könige etwas von ihm erwarteten. Nur schien sich deren Erwartung ständig zu ändern.
Er würde auf jeden Fall erleichtert sein, wenn die Diskussionen vorbei waren und er zu den Flüchtlingen aus Stormwind zurückkehren konnte. Aus ihnen würde er versuchen, wenigstens eine kleine Streitmacht zu formen.
Als sie darauf warteten, dass König Terenas das Morgentreffen eröffnete, erkannte Lothar, dass die anderen Monarchen ihn beobachteten. Einige, wie Trollbane, taten das ganz offen. Andere, Perenolde und Graymane, verfuhren subtiler und warfen ihm nur ab und zu einen Blick zu. Lothar wusste nicht genau, was vor sich ging, aber es gefiel ihm nicht.
»Sind dann alle anwesend?«, fragte Terenas, obwohl er leicht selbst erkennen konnte, dass dem so war. Dem König von Lordaeron entging nicht sehr viel. »Gut. Wir wissen, dass Eile geboten ist, wenn wir unsere Streitkräfte bündeln wollen, um die Horde aufzuhalten. Und wir haben uns alle auf eine Vorgehensweise geeinigt.«
Die anderen Monarchen nickten, was Lothar überraschte und weiter verunsicherte. Sie hatten immer noch miteinander gestritten, als er in der Nacht schlafen gegangen war. Wann waren sie zu einer Übereinkunft gekommen? Und worum genau ging es hier eigentlich?
Die nächsten Worte des Königs verschafften ihm Klarheit, und Lothar lief es eiskalt über den Rücken, denn ihm war die Bedeutung dieses historischen Moments nur allzu bewusst.
»Dann erkläre ich hiermit die Gründung der Allianz von Lordaeron für beschlossen! Wir stehen vereint zusammen, wie es unsere Vorfahren vor langer Zeit im Reich der Arathi taten.« Die anderen nickten, und Terenas fuhr fort. »Und es ist mehr als passend, dass der Oberkommandierende aus eben diesem Herrschaftshaus kommt. – Wir, die Könige der Allianz, ernennen hiermit Fürst Anduin Lothar, Held von Stormwind, zu unserem Oberkommandierenden!«
Lothar sah Terenas an, der ihn herbeiwinkte. »Das war wirklich die einzige Möglichkeit«, erklärte ihm der König von Lordaeron so leise, dass nur er es verstehen konnte. »Jeder wollte das Kommando, und keiner hätte je einen anderen König auf dem Posten akzeptiert. Ihr seid keiner, und deshalb muss niemand fürchten, jemand hätte eine Sonderbehandlung erfahren. Gleichzeitig seid Ihr durch Eure Herkunft adelig genug, dass sie sich nicht übergangen fühlen.« Der König beugte sich vor. »Ich weiß, es ist viel von Euch verlangt. Und ich entschuldige mich dafür. Ich hätte nicht gefragt, wenn es nicht um unser aller Überleben ginge – wie Ihr selbst uns ja gewarnt habt. Werdet Ihr dieses Amt annehmen?«
Die letzten Worte hatte er lauter ausgesprochen. Terenas’ Stimme klang jetzt wieder formeller. Stille legte sich über den Raum, da jedermann auf Lothars Antwort wartete.
Es dauerte nicht lange. Er hatte eigentlich gar keine Wahl, und Terenas wusste das. Aus dieser Geschichte gab es kein Entrinnen mehr. Nicht jetzt, nicht nach all dem, was bereits geschehen war.
»Ich nehme das Amt an«, antwortete er deshalb, und seine Stimme hallte schwer durch den Raum. »Ich werde die Armee der Allianz gegen die Horde führen.«
»Sehr gut!« Terenas klatschte in die Hände. »Wir sollten jetzt alle unsere Truppen zusammenrufen und Vorräte und Ausrüstung ergänzen. Ich schlage vor, wir treffen uns in einer Woche wieder, um Fürst Lothar unsere Soldaten zu präsentieren. Damit er sieht, welche Streitkräfte ihm zur Verfügung stehen, und er mit der eigenen Planung beginnen kann.«
Die anderen Könige murmelten oder nickten zustimmend. Jeder trat vor, um Lothar zu gratulieren und ihm seine vollständige Unterstützung zuzusagen – auch wenn die Zusicherungen von Perenolde und Graymane etwas weniger aufrichtig klangen.
Dann waren die Könige gegangen, und nur vier Männer blieben zurück. Lothar blickte Khadgar an, der ihn anlächelte.
»Wie die Jungfrau zum Kinde…«, sagte der junge Magier und schüttelte den Kopf. »Und du hast dich da reinreden lassen. Diese cleveren Hurensöhne! Sie würden ihre eigenen Kinder verkaufen, wenn es ihnen einen einzigen Morgen Land mehr einbrächte. Ich fand es toll, wie sie einfach davon ausgingen, dass du akzeptieren würdest… Aber das passiert, wenn du Macht über andere ausübst. Es trübt deinen Blick für die Dinge, die wirklich zählen.«
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