»Weißt du, wo sie sind?«
»Das weiß ich.«
Die Herrin der Träume nickte. »Führe mich dorthin, aber beeile dich.«
Sie drehten ab, ohne den anderen Bescheid zu sagen. Malfurion blickte zum Ufer. Ysera bewegte sich so schnell, dass sie einen Bogen fliegen mussten, aber der Druide spürte, dass sie sich den anderen Nachtelfen näherten.
Da! Tyrande winkte ihm zu. Ihr Anblick erfreute Malfurion über die Maßen, und für einen Augenblick vergaß er sogar, dass er auch wegen seines Bruders hier war. Erst dann bemerkte er, dass Illidan nicht zu sehen war.
Ysera landete. Ihre Augen waren wie stets geschlossen, aber Malfurion wusste seit langem, dass sie weitaus besser zu sehen vermochte als die meisten anderen Geschöpfe.
Er sprang von ihrem Rücken. Tyrande umarmte ihn mit einer solchen Intensität, dass er sie einfach nur festhalten wollte. Erst als Ysera sich räusperte, gab er sie zögernd frei.
»Malfurion …«, begann die Priesterin.
Er legte einen Finger auf ihre Lippen. »Später, Tyrande. Wo ist Illidan?«
Ihre Augen weiteten sich für einen Moment. Sie sah über ihre Schulter. »Direkt am Rand.«
Fluchend lief der Druide an ihr vorbei. Illidan wusste doch sicherlich, dass das Land unter ihm zusammenbrach. Wieso verhielt er sich so aberwitzig?
Malfurion lief an der Ruine eines Turms vorbei und wäre beinahe mit seinem Zwilling zusammen geprallt. Illidan gelang es irgendwie, ihn aus seinen bedeckten Augenhöhlen anzustarren.
»Bruder … du kehrst zur rechten Zeit zurück …«
»Illidan, der Brunnen ist außer Kontrolle …«
Der Zauberer nickte. »Ja. Zu viel Magie hat an ihm gezerrt. Die Macht, die wir – hauptsächlich du – mit der Dämonenseele ausgeübt haben, war einfach zu viel. Der Zauber, der die Brennende Legion zurück in ihr Reich gebannt hat, greift jetzt auch nach dem Brunnen. Er verschlingt sich selbst und reißt alles mit, was sich in seiner Nähe befindet.« Er wandte sich dem aufgewühlten schwarzen Wasser zu. »Ist das nicht faszinierend?«
»Nicht, wenn wir hinein geraten. Wieso fliehst du nicht?«
Illidan wischte sich die Hand ab. Erst jetzt erkannte Malfurion die Machtaura, die sie umgab. Und er bemerkte die Feuchtigkeit.
»Wieso hast du deine Hand in den Brunnen getaucht?«
Im gleichen Moment warf ein heftiger Erdstoß beide Nachtelfen um. »Wenn du weißt, wie wir entkommen können, dann sollten wir das tun. Ich wollte Tyrande und mich magisch an einen anderen Ort versetzen, aber der Brunnen ist unkontrollierbar geworden.«
»Hier entlang!« Malfurion ergriff den Arm seines Bruders und führte ihn zurück zu den anderen. Tyrande saß bereits wartend auf Ysera. Sie half zuerst Illidan, dann Malfurion aufzusteigen.
Im gleichen Moment zog ein gewaltiger Schatten über sie hinweg. Malfurion rechnete mit einem schrecklichen Dämon. Als er aufsah, entdeckte zu seiner Erleichterung jedoch Krasus und Alexstrasza.
»Die Dämonenseele!«, rief Krasus. »Hast du sie noch?«
Der Nachtelf zeigte auf eine seiner Gürteltaschen. Schon zu Beginn des Flugs hatte er sie dort verstaut.
Krasus nickte erleichtert. »Dann beeilt euch. Wir müssen schnell fort von hier. Sogar in der Luft wird es nicht sicher sein.«
Malfurion ahnte, dass der Magier weitaus mehr wusste, als er preisgab. Er hielt sich fest, als Ysera sich in den Himmel erhob und am Boden unter ihren Krallen ein weiterer Riss entstand.
»Zin-Azshari ist verloren«, rief der Magier. »Und das ist nur der Anfang.«
Die beiden Drachen schlugen mit ihren Schwingen so schnell sie konnten, aber sie schienen langsamer als sonst zu fliegen. Malfurion blickte zurück. Der Himmel über dem Brunnen existierte nicht mehr. Es gab nur noch eine riesige Wolke, die wie ein Trichter geformt war und alles verschlang. Illidan hatte offenbar die Wahrheit gesprochen. Die Zauber der Dämonen, der Alten Götter und der Verteidiger hatten den Brunnen der Ewigkeit zerrissen.
Hatten er und seine Freunde die Welt gerettet … nur um sie zugleich auch in den Untergang zu fuhren?
Ohrenbetäubender Donner erreichte den Druiden. Er presste die Hände auf die Ohren und wartete, dass der Lärm aufhörte.
»Seht doch!«, schrie Tyrande. Ihre Lippen waren so dicht bei ihm, dass er ihre Stimme hören konnte. »Die Stadt!«
Der Fels unter der Stadt brach auseinander. Eine gewaltige, meilentiefe Schlucht öffnete sich. Die gesamte Hauptstadt rutschte dem Brunnen entgegen.
»Etwas zieht uns zurück!«, stieß Ysera hervor.
Der Brunnen riss die umliegenden Regionen in den Mahlstrom, verschlang Kalimdor buchstäblich. Zin-Azshari schwamm auf den schwarzen Wassern wie eine Insel aus Seetang. Der Palast schien größtenteils unzerstört zu sein, nur der Turm, in dem die Hochgeborenen gearbeitet hatten, neigte sich gefährlich.
Unheimliche Energieblitze schossen durch die Stadt, während sie sich dem Zentrum des Mahlstroms näherte. Im Gegensatz zu den meisten anderen Trümmern, die im Brunnen trieben, wurde die Hauptstadt direkt auf die Mitte zugezogen. Malfurion spürte, wie Tyrande seinen Arm beinahe schmerzhaft fest umklammerte.
»Sie verschwindet …«, flüsterte sie. »Sie – verschwindet wahrhaftig …«
Azsharas Zofen schrien. Vashj hing am Bein der Königin, die dennoch ihren leeren Weinkelch festhielt. Sie weigerte sich, die Zerstörung ihres Palastes hinzunehmen. Sie war Azshara, Licht der Lichter, Herrscherin ihres Volkes. Sie hatte das nicht erlaubt!
Sargeras würde nicht kommen, das wusste Azshara jetzt, obwohl sie es den Dienerinnen verschwieg. Die Zofen durften nicht erfahren, dass sie sich geirrt hatte. Den Missetätern war es irgendwie gelungen, Sargeras an seiner Reise nach Kalimdor – an seiner Reise zu ihr – zu hindern.
Das Donnern wurde lauter. Eine Dunkelheit, die selbst die Blicke einer Nachtelfe nicht durchdringen könnte, hüllte den Palast ein. Nur die wilden Kräfte des Brunnens sorgten jetzt noch für Licht. Schwarzes Wasser ergoss sich in den Palast und spülte zwei ihrer Dienerinnen hinaus. Ihre Schreie verstummten rasch.
Ich bin Azshara! , dachte sie unnachgiebig und mit stoischem Gesichtsausdruck. Ein Gedankenbefehl erschuf einen Schild, der sie und ihre Zofen umgab. Meinen Wünschen darf sich nichts entgegen stellen.
Ihre Macht schützte sie vor dem Wasser, aber die Aufrechterhaltung des Schildes erwies sich als kräftezehrend. Azshara fürchte die Stirn, als kleine Schweißperlen – der erste Schweiß ihres Lebens – auf ihrer Haut erschienen.
Dann flüsterten plötzlich Stimmen in der Dunkelheit, Stimmen, die ihr einen Fluchtweg versprachen.
Es gibt einen Weg … es gibt einen Weg … du wirst mehr sein als je zuvor … als je zuvor … wir können dir helfen … dir helfen …
Die Königin war keine Närrin. Sie wusste, dass der Schild nicht mehr lange halten würde. Dann würden sie und ihre Zofen Opfer des Brunnens werden, und die ruhmreiche Azshara würde für die Welt verloren sein.
Die silbern gekleidete Nachtelfe nickte.
»Aaahhh!« Der Kelch entfiel ihrer Hand. Schmerzen durchtobten ihren Körper. Sie spürte, wie sich ihre Gliedmaßen wanden und drehten. Ihr Rückgrat fühlte sich flüssig an, so als wäre ein Teil davon geschmolzen.
Du wirst mehr sein als jemals zuvor , versprachen die Stimmen – die drei Stimmen. Und wenn die Zeit kommt für das, was wir dir schenken … wirst du uns eine gute Dienerin sein.
Der Schildzauber brach endgültig zusammen. Azshara schrie auf, als die Wasser über sie hinweg brandeten. Hinter ihr schrien auch die anderen – ihre Dienerinnen, die Wachen und die Hochgeborenen, die geblieben waren.
Der Brunnen füllte ihre Lunge.
Aber sie ertrank nicht.
Krasus sah ebenfalls zu, wie die riesige Stadt – das Sinnbild für die hohe Kultur der Nachtelfen – in den Mahlstrom gesogen wurde. Er zitterte nicht nur wegen der Zerstörungen, die sich vor ihm abspielten, sondern auch ob des Wissens, das er über die Zukunft hatte. Der Drachenmagier hatte gehofft, Zin-Azshari würde zerrissen werden, bevor es versank, aber dieser Teil der Geschichte war unverändert geblieben. Die Stadt würde in der Tiefe verschwinden – aber in einigen Jahrhunderten zur Brutstätte neuer Schrecken werden.
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