Neltharion betrachtete die Dämonenseele, dann legte er sie zögernd, fast zärtlich in das Loch. Danach schob er den Fels wieder davor.
Es blitzte ein zweites Mal, und das Loch war verschwunden. Malfurion hätte es nicht einmal bemerkt, wenn er unmittelbar vor dem magischen Fels geschwebt hätte, so perfekt war die Tarnung.
Noch bemerkenswerter war jedoch, dass Malfurion die Scheibe und ihre dunklen Energien auch nicht mehr spürte.
Der Drache konnte die Scheibe zwar nicht außerhalb der sterblichen Welt verbergen, aber sein Versteck war fast ebenso perfekt.
Neltharion zögerte. Sein Blick richtete sich auf den Fels, hinter dem die Dämonenseele ruhte. Er hob eine Klaue und schien die Tarnung berühren zu wollen.
Frustriert zischend wandte er sich dann aber um, ließ den Arm sinken und stampfte aus der Höhle.
Der Druide verbarg sich im Stein, bis er sicher war, dass Neltharion weit genug weg war. Sekunden vergingen so langsam wie Stunden. Schließlich entschied der Nachtelf, dass es jetzt sicher war und schob den Kopf aus dem Stein. Die Höhle war leer. Malfurion schwebte auf das Versteck der Dämonenseele zu.
Sogar unmittelbar vor der Abdeckung spürte er nichts. Obwohl er diesen verfluchten Ort am liebsten sofort verlassen hätte, beschloss Malfurion, einen Blick auf die Scheibe zu werfen. Er wollte sichergehen, dass er alles über das Versteck wusste. Krasus würde ihm einige Fragen stellen.
Er beugte sich vor. Seine Traumgestalt glitt in Neltharions getarntes Versteck.
Ein furchtbarer Schrei hallte durch die Höhle.
Malfurion vergaß jeden Gedanken an die Dämonenseele. Er warf sich tief in die Wände hinein und flog einige Meter, bevor er es wagte, innezuhalten.
Er fühlte eine gewaltige, eine intensive Macht. Sie durchsuchte die Umgebung nach etwas, das nicht dorthin gehörte. Malfurion spürte, dass sie vom schwarzen Drachen ausging.
Neltharion musste gemerkt haben, dass etwas nicht stimmte. Allerdings war seine Suche unkoordiniert und breit gefächert, so als wisse er nicht, wonach er Ausschau hielt. Der Druide blieb erstarrt stehen, unschlüssig, ob er fliehen oder besser im Fels bleiben sollte.
Die magische Suche kam näher, verfehlte den Nachtelf jedoch. Malfurion entspannte sich, doch da tastete der Drache auch schon nach ihm.
Der Druide zog sich augenblicklich weiter zurück. Neltharion griff ins Leere. Der Drache hatte ihn erneut verfehlt.
Doch der Nachtelf wollte kein weiteres Risiko eingehen. Er wusste nun, wo sich die Scheibe befand. Der Erdwächter war zwar misstrauisch, ahnte aber wahrscheinlich nicht, dass ihm jemand gefolgt war.
Malfurion zog sich aus der Höhle und den Bergen zurück. Er suchte nach der unvollendeten Welt im Smaragdtraum. Erst als er sie betreten hatte, fühlte er sich einigermaßen sicher.
Dieses Gefühl verschwand jedoch, als er die übermächtige Präsenz Neltharions spürte.
Der Drache kannte die Ebenen des Traumreichs.
Der Nachtelf konzentrierte sich verzweifelt und zwang sich, an seinen sterblichen Körper zu denken. Er stellte sich vor, wie er in ihn zurückkehrte, während der Erdwächter bereits nach ihm griff …
Er glaubte schon, in die Klauen des wahnsinnigen Drachen geraten zu sein, als er endlich erwachte.
»Er zittert«, stieß Rhonin zur Linken des Nachtelfs hervor. »Und er ist schweißnass.«
»Malfurion!« Krasus’ Gesicht tauchte vor dem Druiden auf. »Was fehlt dir? Rede.«
»Ich … mir geht es gut.« Er machte eine Pause, um zu Atem zu kommen. »Neltharion … er hätte mich beinahe bemerkt, aber ich konnte ihm entkommen.«
»Du hast bereits nach ihm gesucht? Das solltest du nicht!«
»Die Gelegenheit … ergab sich …«
»Jetzt ist er gewarnt«, murmelte Rhonin.
»Vielleicht auch nicht«, antwortete der ehemalige Lehrer des Zauberers. »Wahrscheinlich wird er die Störung den vielen Schatten zuschreiben, die er um sich herum sieht.« An Malfurion gewandt fragte der Magier: »Hast du die Dämonenseele gefunden?«
»Ja, ich weiß, wo … sie ist«, erklärte der Druide mühsam. Er sah Neltharion noch vor sich. Das verzerrte Drachengesicht jagte ihm einen Schauer über den Rücken. »Aber ich glaube nicht, dass wir sie ihm abnehmen können.«
»Aber das müssen wir«, sagte Krasus ruhig. »Das müssen wir … ganz gleich, welchen Preis wir dafür zahlen.«
Sanfte Hände berührten und wuschen sein verbranntes Fleisch. Um ihn her roch es nach Lilien und anderen Blumen. Illidan regte sich. Er stieg aus dem Koma auf, in das er sich selbst versetzt hatte, um seinen Qualen zu entkommen. Der Schmerz war nicht mehr so stark wie am Anfang, aber Malfurions Bruder bezweifelte, dass er je ganz vergehen würde.
Als sein Bewusstsein zurückkehrte, begann seine Welt plötzlich in wilden Farben aufzuleuchten. Der Zauberer stöhnte auf und versuchte seine fehlenden Augen zu bedecken. Doch über den leeren Höhlen gab es noch nicht einmal mehr Lider. Die pulsierenden Energien und ständig wechselnden Farben drohten, ihn in den Wahnsinn zu treiben.
Das also war Sargeras’ Geschenk: eine dämonische, magische Ansicht der Welt.
Illidan Stormrage erinnerte sich an die Worte Rhonins, des menschlichen Magiers. Konzentriere dich , hatte der mächtige Zauberer immer wieder betont. Konzentriere dich, und alles wird Sinn ergeben. Das ist der Schlüssel …
Illidan wehrte sich gegen den Schock, der auf ihm lastete und versuchte dem Rat seines Mentors zu folgen. Anfangs erschien es ihm unmöglich, denn das Chaos war so groß, dass ein Sterblicher es nicht zu kontrollieren vermochte.
Doch mit der gleichen Beharrlichkeit, die ihm schon den rasanten Aufstieg innerhalb der Mondgarde beschert hatte, erzwang Illidan Ordnung. Die Farben flossen zusammen, die Energien pulsierten rhythmisch und zielgerichtet. Schemen begannen sich aus den natürlichen Kräften zu bilden, die alle Dinge, ob lebendig oder nicht, durchflossen.
Er bemerkte jetzt, dass er auf einem Diwan lag, dessen Stoff so glatt und fein war, dass er auf ihn beinahe sinnlich wirkte. Neben ihm standen zwei Frauen, auch das erkannte Illidan erst jetzt. Er musste sich konzentrieren, um weitere Einzelheiten wahrzunehmen. Es waren Nachtelfen, junge, hübsche Nachtelfen, in prächtige Gewänder gehüllt.
Er konzentrierte sich auf die Elfe, die ihn gewaschen hatte. Er spürte die silberne Farbe ihres Haars – Silber, das nicht natürlich war – und die katzenhafte Form ihrer Augen. Seine Wahrnehmung war schärfer als jemals zuvor. Er bemerkte sogar die winzigen Farbunterschiede in den einzelnen Haarsträhnen. Er spürte die Macht, die von jeder der drei Hochgeborenen ausging – und wusste auch, dass diejenige von ihnen, die seine Wunden säuberte, bei weitem die Mächtigste war. Doch verglichen mit seinen eigenen, waren ihre Fähigkeiten geradezu lächerlich gering.
Die oberste Zofe erholte sich als Erste von ihrer Überraschung. Sie legte das feuchte Tuch beiseite und griff nach etwas, das Illidan durch die wirbelnden Energien als bernsteinfarbenen Seidenschal identifizierte.
Bernstein – die Farbe seiner nun fehlenden Augen.
»Dies ist für dich, Lord Zauberer.«
Er verstand sofort, wofür der Schal sein sollte. Seine verbesserte Wahrnehmung hatte ihn für einen Moment vergessen lassen, wie er auf andere wirken musste. Er verneigte sich ansatzweise, so wie er sich früher vor Lord Ravencrest verbeugt hatte, und nahm den Schal entgegen. Dann wickelte er ihn sich um den Kopf, sodass er die Augenhöhlen bedeckte. Es überraschte ihn nicht, dass der Stoff seine Fähigkeiten nicht beeinflusste.
»Schon viel besser«, murmelte die Frau. »Du musst gut aussehen für unsere Königin …«
»Danke, Vashj«, sagte Azsharas Stimme plötzlich. »Du und die anderen dürft euch jetzt zurückziehen.«
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