»Nein«, sagte sie leise. »Ich weiß, daß wir hier sicher sind. Ich weiß aber auch, was geschieht, wenn ein Buschbrand über die Ebenen rast. Ich habe das erlebt, aber nie so spät im Jahr.«
»Ihr denkt an Verminaards Drachen, nicht wahr?«
»Richtig.«
»Doch, ja, ich hatte denselben Gedanken, Lady.« Um Hornfells willen, weil sein Freund diese Frau aus den Ebenen, diese angebliche Klerikerin von Mesalax, zu schätzen schien, bemühte sich Gneiss um einen höflichen Ton. »Lady Goldmond, das ist eine Angelegenheit für den Rat. Ich hoffe, Ihr gestattet uns zu gehen.«
Goldmond sagte nichts, doch als Hornfell und Gneiss die enge, kleine Hütte verließen, begleitete Tanis sie. Hornfell sagte nichts dagegen, und Gneiss erhob keine Einwände, sondern lief einfach etwas voraus, während er sich damit beschäftigte, warum seine Worte sich so ungehobelt angehört hatten.
Thorbardin bestand aus sechs kleinen, tief im Berg gelegenen Städten. Diese Städte waren durch zahlreiche Straßen und Transportschächte sowohl untereinander als auch mit diversen Nebenhöhlen und den zwei großen Toren verbunden. Die beiden Zwerge kannten sich überall aus. Sie gingen durch diese Straßen, ohne nachzudenken, wie man es tut, wenn man an einem Ort geboren ist und sein ganzes Leben dort verbracht hat. Der Lärm aus dem Geschäftsviertel und die Stille der Gärten umgaben sie wie Sonnenlicht und Schatten.
Tanis folgte den beiden Lehnsherren schweigend und beschäftigte sich mit seinen Beobachtungen. Als die drei an einer kurzen, schmalen Brücke über die abgrundtiefe Haupthöhle anhielten, in der die Städte lagen, sah Gneiss sich um, weil er hörte, wie der Halb-Elf leise seufzend Luft holte.
Auf der Brücke, deren gewölbtes Dach und breiter Boden aus quadratischem hellen und dunklen Granit bestanden, war niemand zu sehen. Von der Promenade vor ihnen drangen Rufe und Gelächter von spielenden Zwergenkindern zu ihnen hin. Die zurückliegenden Gärten harrten still im Schatten. »Was ist los?« flüsterte Gneiss.
Tanis hob eine Hand und lauschte mit gesenktem Kopf. Sie hörten, wie Ledersohlen über Stein liefen. Der Halb-Elf griff nach seinem Kurzschwert. Hornfells Finger schlossen sich um den Griff des kleinen Dolches an seiner Hüfte. »Im Schatten«, sagte der Hylar.
Noch während er das sagte, trat aus den Schatten, die von der unten gähnenden Höhle bis zum Rand der Brücke reichten, eine Gestalt hervor. Schauer lief Gneiss über den Nacken. Er kannte den Zwerg, der aus der Dunkelheit trat und die Promenade betrat, als hätte er sie nicht gesehen. Ein Theiwar, einer von Realgars Derro-Zauberlingen. Tanis’ Daumen streichelte abwesend das Heft seines Kurzschwerts. Er sah von Hornfell zu Gneiss. »Wer war das?«
»Den Namen weiß ich nicht«, raunzte Gneiss. »Dhegan«, sagte Hornfell. »Genau, Dhegan. Einer von Realgars – Untertanen.«
Er hätte genausogut ›Assassinen‹ sagen können, dachte Gneiss. Er strich sich den Bart und hielt auf die helle Promenade zu.
Beim Gehen fiel dem Daewaren auf, daß Hornfell Tanis nichts erklärte. Das machte ihm bewußt, daß der Halb-Elf sie nicht begleitete, um die Stadt kennenzulernen. Irgendwann gestern oder heute nacht mußte Hornfell den beiden Anführern der Flüchtlinge die politische Lage im Zwergenkönigreich erklärt haben. Tanis, der Halb-Elf, Ausländer und Fremder, begleitete sie nicht nur als Weggefährte, sondern auch als Leibwächter.
Genau, ja, sie vertreten ihre Interessen. Das erste, was der verdammte Theiwar macht, wenn seine Revolution anfängt, ist, diese Flüchtlinge loszuwerden.
Plötzlich wollte der Daewar Licht sehen und fühlen. Bald würde er kämpfen müssen. Er wollte nicht im Dunkeln kämpfen.
Nachtschwarz hatte keine Freude am Feuerschein. Realgar beachtete sein ungeduldiges Fauchen nicht weiter, sondern drehte der Fackel an der Wand den Rücken zu. Sein schwarzer, verzerrter Schatten sprang vor ihm über den rauhen Steinboden der Drachenhöhle. Ein heftiger Wutausbruch hatte den Theiwar gepackt. Seine rechte Hand griff nach dem Schwert, das an seiner Hüfte hing, die Finger betasteten die Versilberung und das Muster der in das Heft gebetteten Saphire. Als ob er einen ruhespendenden Talisman berührt hätte, legte sich sein Zorn. Er winkte den beiden Wachen, die hinter ihm im Dunkeln warteten. Gemeinsam zogen sie eine schwere, reglose Last ins Licht.
Totes Fleisch! Nachtschwarz grollte, ein grimmiger, wütender Protestlaut. In der kleinen Nachbarhöhle lag außer Reichweite besseres Futter: der einhändige Zwerg und das Menschenmädchen, die Realgar am Morgen gefangengenommen hatte. Der Drache dachte an das lebende Fleisch, um dann die Leiche einer toten Zwergenwache zu beäugen.
»Soll ich das etwa essen?«
Realgar lachte, ein Geräusch wie knisterndes Eis. »Bist du denn immer noch hungrig? Waren eine Ziege und ein Kalb nicht genug? Ach, Drache, du bist wirklich unersättlich.« Mit flammenden Augen kam er auf Nachtschwarz zu. »Der Waldläufer ist weg! Ich habe den hier in der Zelle gefunden, wo er hätte sein sollen! Hast du Hunger? Schön und gut. Friß erst mal diese Leiche und dann finde den Waldläufer. Danach bekommst du besseres Fleisch. Vorher nicht.«
Nachtschwarz schlängelte seinen Hals nach vorn und weitete die großen Nüstern. Aas war eine Zumutung, aber sein Magen rebellierte vor Hunger. Er senkte seine messerscharfen Zähne in die Schulter des toten Zwergs, biß fest zu und knackte die Knochen.
Realgar nahm keine Notiz davon, sondern entließ die beiden Wachen mit einem kurzen Wort. Dabei drehte er dem Drachen und dem Toten zu seinen Füßen den Rücken zu. Er zog das Königsschwert aus der Scheide.
Öliger Fackelrauch strömte über das juwelenbesetzte Heft.
Das vom Gott berührte Herz der Klinge pochte im flackernden Licht der Flamme schneller. Realgar hob das Schwert mit beiden Händen hoch und senkte es langsam auf Augenhöhe. Der Stahl lief von seinen kurzen, raschen Atemzügen an. Durch den Schleier glühte das tiefrote Herz nach wie vor weiter.
Als Königsschwert trug Sturmklinge keinerlei Rune oder Zeichen.
»Die«, flüsterte er dem Schwert zu, »kommen später, um davon zu künden, was ich vollbracht habe. Prinzregent?« Seine Augen wurden zu Schlitzen. »Nein. Hochkönig.«
Kein Prinzregent, dachte er jetzt, als er die Klinge herunternahm. Kein Statthalter auf dem Thron des Hochkönigs, der bis ans Ende seiner Tage darauf wartet, daß ein sagenumwobener Streithammer gefunden wird. Ich werde Hochkönig!
Nachtschwarz reckte seinen Hals wieder und brachte seinen Kopf so tief, daß er fast den feuchten Stein bei dem Zwerg berührte. Das Auge des Ungeheuers war praktisch auf der gleichen Höhe mit Realgars. »Wozu bewache ich sie, Fürst, wenn nicht für mich selbst?«
Realgar lächelte kalt, während seine Augen von dem Königsschwert zu den Gefangenen wanderten, die immer noch da im Dunkeln lagen, wo seine Wachen sie hingeworfen hatten. Sein Schlafspruch würde bald nicht mehr wirken. Wieder lächelte er, als er daran dachte, wie sie unter den Augen eines hungrigen Drachen erwachen würden. Stanach, der Lehrling des Schwertschmieds, und das Menschenmädchen sollten für Besseres als für den Magen von Nachtschwarz aufbewahrt werden.
Für meine Krönung, dachte er, wo ich ihnen danken werde, daß sie mir das Königsschwert gebracht haben, nur um ihnen danach das Herz herauszuschneiden, weil sie es mir vorenthalten wollten. Zu dem Drachen sagte er nichts, sondern zuckte nur mit den Schultern.
Nachtschwarz hob den Kopf. Seine langen Zähne geiferten, und sein Atem stank nach seinen letzten Morden. »Fürst?«
Realgar blieb ruhig, obwohl er eine Gänsehaut bekam, als die Drachenzähne so nah an seinem Hals waren. »Du bewachst sie auf meinen Befehl. Das sollte Grund genug sein.«
Der Drache begnügte sich damit, sich auszumalen, mit welcher Zufriedenheit Verminaard das Schwert im Thronsaal von Pax Tarkas über dem Schädel dieses arroganten kleinen Fürsten aufhängen würde.
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