Salman starrte sie aus großen Augen an.
Jael nickte. „Wenn sich die Erde zwischen Licht und Schatten drängt“, sagte sie leise und wiederholte damit, was Wigalf auf dem Friedhof gesagt hatte. „Der Sakkara-Kult wird in der kommenden Nacht das Tor zur Hölle öffnen, aber an einem Ort, den wir nicht kennen, und das, weil Ihr nicht den Mut hattet, etwas gegen diese Bedrohung zu unternehmen, als noch die Möglichkeit dazu bestand!“ Sie deutete mit dem Zeigefinger auf Godrik, der mit hasserfüllter Miene auf seinem Stuhl saß und mit weißen Knöcheln seinen Stock umklammert hielt. „Wenn dieses Reich untergeht“, knurrte sie, „könnt Ihr Euch das auf die Fahnen schreiben!“
„Wenn Ancaria untergeht“, hielt Godrik finster dagegen, „dann, weil dieses Land es nicht besser verdient hat!“
Salman holte tief Luft und setzte zu einer Erwiderung an, doch Godrik warf ihm einen Blick zu, der ihn zum Schweigen brachte, dann wandte sich der Enklavenvorsteher wieder der Seraphim zu: „Ich denke, wir haben unseren Standpunkt deutlich gemacht“, sagte er, als spräche er für alle im Saal, und keiner wagte es, Einspruch zu erheben oder ihm zu widersprechen, obwohl außer Salman noch zwei oder drei andere der zwölf Zauberer den Eindruck machten, dass sie keineswegs mit Godrik einer Meinung waren. „Ob Ihr nun einem Hirngespinst nachjagt oder nicht, von uns habt Ihr keine Hilfe zu erwarten. Natürlich kann ich Euch nicht zwingen, die Enklave umgehend zu verlassen, aber Euch sollte bewusst sein, dass Ihr von dieser Sekunde an nicht länger unsere Gäste seid. Ihr habt unsere Gastfreundschaft mit Füßen getreten. Ihr seid nicht länger in Sternental willkommen, und ich übernehme keinerlei Verantwortung für etwaige Fährnisse, die Ihr womöglich erleidet, wenn Ihr hier bleibt.“
„Natürlich nicht“, entgegnete die Seraphim kühl. „Wie Ihr auch für sonst nichts die Verantwortung übernehmt!“ Jael schaute angespannt in die Runde, doch die anderen Zauberer wagten nicht einmal, sie offen anzusehen, geschweige denn, ihr beizupflichten.
„So viel zur Diplomatie“, sagte Zara leise. „Besser hätte ich es auch nicht sagen können.“
Jael starrte die Vampirin an. Ihre Augen funkelten vor Zorn und Verzweiflung. Erneut suchte sie unter den zwölf Zauberern nach Zustimmung, nach einem Zeichen dafür, dass sie doch nicht allein waren, aber keiner der Zauberer wagte es, gegen Godrik aufzubegehren.
Als Jael das klar wurde, wirbelte sie mit einem wütenden und zugleich resignierten Schnauben herum und eilte mit ausgreifenden Schritten auf das Portal zu, einen Schwall gar nicht himmlischer Flüche und Verwünschungen auf den Lippen. Sie drehte sich nicht noch einmal um. Sie wusste, dass sie hier keine Unterstützung erhalten würde.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Die „letzte Stunde“, die Salieri angekündigt hatte, stand kurz bevor. Sobald die Nacht hereinbrach, würde es keinen Morgen mehr geben. Oder zumindest keinen, für den es sich zu Leben lohnte. Und das alles, weil sich ein ins Exil verbannter Zauberer, den Wut und Verbitterung offenbar um den Verstand gebracht hatten, weigerte, ihnen zu helfen ...
Noch nie zuvor in ihrem langen, langen Leben hatte sich Jael so entsetzlich hilflos gefühlt.
„So ein verfluchter Kerl!“, wetterte Zara, kaum dass sich die Flügeltüren des Zeremoniensaals hinter ihnen geschlossen hatten. Die Seraphim wartete ein paar Meter weiter auf sie und setzte sich wieder in Bewegung, als Zara und Falk sie mit Thor erreichten. Sie ging auf die Wendeltreppe zu, stieg die Stufen hinab; die anderen trotteten hinter ihr her.
Wie Zara hatte auch Falk während der ganzen Unterredung mit Godrik und dem Rat der Bruderschaft versucht, seinen Ärger über die Ignoranz des Enklavenvorstehers im Zaum zu halten, um Jael das Wort zu überlassen. Doch jetzt, da sie wussten, dass sie von den Zauberern keine Hilfe zu erwarten hatten, machte der Zorn bei ihm – ebenso wie bei Jael – einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit Platz.
Doch anders als die Seraphim, die allen Ernstes geglaubt zu haben schien, Godrik mit einem beherzten Appell dazu bringen zu können, ihnen in dieser schwierigen Stunde beizustehen, war Falk keineswegs davon überzeugt gewesen, dass die Zauberer ihnen helfen würden. Vielleicht lag es daran, dass er im schlechtesten Sinne menschlicher war als die Seraphim, die in allem, was sie tat, doch irgendwie ihren göttlichen Idealen und dem Glaube an das Gute verhaftet war.
Falk hatte angenommen, dass man ihnen nach Jaels letzten Worten folgen und sie noch einmal nachdrücklich dazu auffordern würde, Sternental zu verlassen. Doch niemand hielt sie auf, als sie die Wendeltreppe hinabstiegen, und es war auch keiner in der unteren Halle, der sie daran gehindert hätte, die Burg zu verlassen.
Tatsächlich war es, als wäre die Enklave mit einem Schlag ausgestorben, was nicht so sehr damit zu tun hatte, dass niemand auf den Straßen unterwegs war – das war auch vorher so gewesen –, sondern vielmehr mit der Atmosphäre, die die Gelahrten beim Verlassen der Großen Burg erwartete. Es war, als wäre die Luft irgendwie aufgeladen, wie bei einem Gewitter – knisternd vor negativer Energie, die sich in einem gewaltigen Unwetter entladen würde, und mit jeder Minute, die der Abend näher kam, stieg die unterschwellige Spannung an. Zara glaubte fast, den bitteren Gestank von Schwefel in der Luft zu riechen, als hätte sich das Höllentor bereits einen Spaltbreit geöffnet und seinen stinkenden Odem in die Welt entlassen, als kleinen Vorgeschmack auf das, was da noch kommen würde ...
Statt auf ihre Pferde zu steigen und zu reiten, führten sie die Tiere an den Zügeln die frühlingshafte Allee hinab. Einige Knospen waren bereits aufgebrochen und schickten sich an, zu erblühen; das Gras zwischen den mächtigen uralten Kastanien war grün und voll, und die Luft trug bereits den ersten Hauch des Sommers in sich. Doch was sie bei ihrer Ankunft in Sternental mit kindlicher Faszination erfüllt hatte, ließ Jael jetzt völlig kalt. In Gedanken versunken, führte sie ihr Pferd durch das Spalier der Bäume und in das Wirrwarr der verwaisten Gassen; ihre Gefährten folgten ihr.
Sie gingen eine Weile schweigend einher, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, die sich doch alle um dasselbe Problem drehten. Es war, als müsste jeder von ihnen auf seine eigene Art mit der aussichtslosen Situation fertig werden.
Begleitet vom hohlen Klappern der Pferdehufe auf dem Kopfstein, gingen sie durch die Gasse mit den Kräuterläden, vorbei am Räudigen Köter, wo Brutus, der Wirt, hinter dem Tresen stand, und obgleich mit der Mittagsstunde auch der Sommer nahte, schien es, als würden die Schatten in der Gasse länger statt kürzer werden; statt wohliger Wärme verspürte Zara ein eisiges Frösteln, als sie sich dem Ortsausgang näherten, doch sie war sich nicht sicher, ob ihr das bloß so vorkam oder ob dem tatsächlich so war. Vermutlich bildete sie es sich nur ein.
Es war schließlich Falk, der das Schweigen brach. „Und jetzt?“, wollte er wissen, als am Ende der Gasse weiter vorn bereits die beiden Obelisken über die windschiefen Dächer aufragten, die den Eingang zur Unterstadt markierten. Er warf seinen beiden Begleiterinnen einen ernsten Blick von der Seite zu. „Was sollen wir jetzt machen? Einfach die Pferde satteln, Sternental den Rücken kehren und die Welt sich selbst überlassen?“ Es klang nicht so, als käme diese Option für ihn tatsächlich in Frage.
„Ja“, murmelte auch Zara, „was jetzt?“
„Ich weiß es nicht“, gestand die Seraphim finster, und dabei sah sie aus, als würde die Last der ganzen Welt auf ihren Schultern ruhen, bloß dass sie dieser Bürde nicht länger gewachsen war und zusammenzubrechen drohte. „Es ist alles so ... so unwirklich. Wie ein böser Traum.“ Sie seufzte, und es klang entsetzlich müde. „Ich fürchte, dies ist wirklich das Ende“, sagte sie. „Ich weiß nicht, was wir noch tun können. Solange wir nicht wissen, wo der Sakkara-Kult das Ritual zum Öffnen des Höllentors abhält, haben wir keine Möglichkeit, ihnen Einhalt zu gebieten. Die Zauberer werden uns nicht helfen noch sonst irgendjemand in der Enklave, und einfach auf gut Glück durch die Gegend reiten, in der Hoffnung, den geheimen Platz zu finden, an dem das Ritual stattfindet...“ Sie schüttelte traurig den Kopf. „Das ist sinnlos. Es könnte überall sein.“ Ihr trauriger Blick glitt über die Dächer zum dunklen Waldrand, der jetzt mehr denn je wie eine undurchdringliche Mauer wirkte, und sie sagte noch einmal, dieses Mal mehr zu sich: „Überall...“
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