„Amen“, murmelte Zara sarkastisch und spielte damit auf jene neue Religion an, die seit einiger Zeit überall in Ancaria Fuß fasste; wahrscheinlich weil die Menschen erkannten, dass dieser Gott anders war als jene Alten Götter, denen Jael diente.
Wider Erwarten nickte Jael zustimmend. „Wir müssen herausfinden, wo der Kult das Ritual zum öffnen des Höllentors durchfuhrt“, sagte sie. „Nur, wenn wir verhindern, dass sie das Ritual zu Ende bringen, können wir die Katastrophe abwenden.“
„Aber wie können wir sicher sein, dass Wigalf die Wahrheit sagte?“, fragte Falk. „Er war schließlich nicht mehr ganz bei Sinnen; vielleicht war er verwirrt, oder er wollte uns mit Absicht in die Irre führen. Vielleicht hat der Kult etwas vollkommen anderes vor. Vielleicht wollen sie, statt das Tor zur Hölle zu öffnen und die Welt mit Dämonen zu fluten, ein Heer riesiger weißer Killerkaninchen aufstellen, groß wie Bären, die durch die Lande ziehen und jedem den Kopf abbeißen, auf den sie stoßen.“ Er schob die Unterlippe vor. „Kann doch sein, oder nicht?“
„Vielleicht klingt es seltsam“, erklärte Jael, „aber ich glaube, dass Wigalf die Wahrheit gesagt hat, oben in der Turmkammer und gerade eben auch. Das, was er über den Sakkara-Kult und seine Ausbreitung in der Enklave erzählt hat, stimmt, ebenso wie seine Worte darüber, was der Kult vorhabt, und ich würde mich nicht wundern, wenn es in Sternental tatsächlich eine Gruppe ,guter‘ Magier gebe, die versucht, die Verschwörer daran zu hindern, die Welt ins Chaos zu stürzen – bloß dass Wigalf keiner von ihnen war, sondern auf der anderen Seite stand.“ Sie brach mit einem missmutigen Seufzen ab, und ihr Blick schweifte über die Mauern des Friedhofs hinaus in die Ferne, zum Horizont, wo das Grau der Nacht allmählich wieder heller wurde.
Thor trottete heran und rieb seinen wuchtigen Schädel an ihrem Bein, als würde er spüren, dass Jael Kummer hatte.
Die Seraphim streichelte gedankenverloren sein drahtiges Fell und versuchte sich darüber klar zu werden, was – sie tun sollten – was sie tun konnten.
Sonderlich viele Möglichkeiten blieben ihnen nicht; um der Wahrheit die Ehre zu geben, gab es unterm Strich eigentlich bloß eine einzige, selbst wenn sie Jael nicht gefiel.
„Wir müssen zurück nach Sternental“, sagte sie. „Zur Großen Burg.“
Zara runzelte die Stirn. „Um mit Godrik zu reden?“
Jael nickte. „Er ist der Einzige, der uns jetzt noch helfen kann.“
„Schon möglich“, brummte Zara. „Nur wird er das nicht tun.“
„Er muss “, beharrte die Seraphim. „Wenn wir ihm reinen Wein einschenken und ihm sagen, was vorgeht, dass die Welt am Rande des Abgrunds steht, wird er handeln müssen. Niemand, der von dieser Gefahr weiß und klaren Verstandes ist, kann untätig bleiben.“
„Und wenn er zu ihnen gehört?“, warf Falk ein. „Was, wenn er ein Mitglied des Kults ist und nur darauf wartet, seinen Platz in der neuen Weltordnung einzunehmen, als Handlanger der Chaos-Dämonen?“
„Dann“, sagte Jael düster, „ist die Welt schon verloren ...“
Als sie sich erneut auf den Weg nach Burg Sternental machten, dämmerte bereits der Morgen herauf, und mit dem ersten blassen Licht des neuen Tages hielt der Frühling Einzug in der Enklave. Schnee und Kälte schwanden wie eine schlechte Erinnerung. Eine warme, sanfte Brise strich durch den Talkessel, zauberte den Frost von Bäumen und Sträuchern und ließ erste zarte Knospen und Blätter sprießen. Krokusse und Osterblumen brachen durch die fruchtbare schwarze Erde, während sich das Grün zusehends ausbreitete und bald hier, bald da vergessen ließ, dass Väterchen Frost je regiert hatte.
Die Allee der Kastanienbäume zum Portal der Großen Burg stand bereits in voller Blüte, als die Gefährten in gestrecktem Galopp durch die menschenleeren Gassen von Sternental preschten, doch keiner von ihnen hatte für dieses neuerliche Wunder mehr als einen flüchtigen Blick übrig. Winter oder Frühling, Sommer oder Herbst – nichts in der Enklave war so, wie es sein sollte. Es war alles nur Lug und Trug, nichts als schöner Schein, um von dem abzulenken, was hinter all diesem Zauber verborgen lag. Hier gab es nichts, das so war, wie es aussah, und niemanden, dem man Glauben schenken konnte. Und genau das bereitete Zara Sorge. Wigalf war es mit Leichtigkeit gelungen, sie in die Falle zu locken. Wie also konnten sie überhaupt jemandem trauen?
Doch sie behielt ihre Zweifel für sich. Jael war fest entschlossen, den Enklavenvorsteher um Unterstützung zu ersuchen, und auch, wenn die Vampirin weit weniger zuversichtlich war, dass Godrik ihnen helfen würde, so hatte Jael doch zumindest mit einem Recht: Niemand, der von dieser Bedrohung wusste und halbwegs klaren Verstandes war, konnte zulassen, dass der Sakkara-Kult das Tor zur Hölle auftat und ein Dämonenheer in die Welt entließ.
Doch wie sich zeigte, hatte das Ganze weniger mit klarem Menschenverstand zu tun, sondern vielmehr damit, ob man ihnen überhaupt Glauben schenkte. Und damit fingen die Schwierigkeiten erst an.
Als sie mit wehenden Umhängen den Korridor zum Großen Saal am oberen Ende der Wendeltreppe entlanghetzten, sagte Jael mit einem Seitenblick auf die Vampirin: „Überlass mir das Reden; ich denke, mit Diplomatie kommen wir hier weiter als mit roher Gewalt.“
Zara setzte ihre beste Unschuldsmiene auf, die so viel besagte wie: Ich und Gewalt? Niemals! „Wie du meinst“, erwiderte sie mit mildem Spott in der Stimme. „Du bist die Seraphim.“
Jael runzelte irritiert die Stirn, als wusste sie nicht recht, ob Zara sie nur auf den Arm nehmen wollte oder es ernst meinte. Doch bevor sie nachhaken konnte, erreichten sie das Portal zum Großen Saal, und die Seraphim beschloss, dass es jetzt Wichtigeres zu klären gab.
Nachdem sie ohne anzuklopfen den linken Flügel des Doppelportals aufgerissen hatte, stieß sie einen erleichterten Seufzer aus, denn trotz der vergleichsweise frühen Stunde war Godrik, der Enklavenvorsteher, bereits anwesend. Zusammen mit seinen beiden schweigsamen Beisitzern thronte er hinter seinem endlosen Schreibtisch. Doch anders als gestern Abend standen in einem Halbkreis vor dem Tisch zwölf hohe lederbezogene Lehnstühle, und auf jedem dieser Stühle saß ein Zauberer, und jeder von ihnen drehte überrascht den Kopf zum Portal, als die Gefährten in den Saal stürmten, alle Anstandsregeln vergessend.
Noch während sie auf den Tisch des Rats zueilte, schleuderte Zara den deformierten Schädel von Wigalf an den Haaren von sich, geradewegs in den Stuhlhalbkreis. Der abgeschlagene Kopf rollte noch einige Meter über den Boden und blieb reglos inmitten der Zauberer liegen, die schwarzen Augen aufgerissen, der Mund eine gähnende Grube voller Reißzähne. Doch obgleich Wigalf am Ende kaum noch menschlich gewesen war, konnte man nach wie vor erkennen, dass es sein Kopf war, der da lag.
Ein entsetztes Raunen ging durch die Reihe der Versammelten.
Godrik sprang entrüstet auf. „Was zum ...“
Jael ließ ihn den Satz nicht zu Ende bringen. „Das“, sagte sie und zeigte mit dem Finger auf den abgetrennten Schädel, „ist der Kopf eines Verräters. Eines Verräters an allem, wofür diese Magierbruderschaft steht; an allem, wofür die Menschheit steht. Während Ihr hier oben in Eurem Turm hockt und hehre Reden schwingt, wie sehr Euch das Wohl der Gemeinschaft am Herzen liegt, hat sich direkt unter Eurer Nase eine Senkgrube des Bösen gebildet, deren widerwärtiger Gestank sich mit jedem Tag mehr ausbreitet, und Ihr habt nichts dagegen unternommen!“
Godrik starrte sie grimmig an. Jetzt, da er seine erste Verblüffung halbwegs verwunden hatte, ließ er sich wieder auf seinen Stuhl zurückfallen. „Wir sind gerade in einer Unterredung“, sagte er, bemüht, seine Stimme gleichzeitig ruhig und autoritär klingen zu lassen. „Ich bin gerne bereit, Euch anzuhören, warum Ihr Euch genötigt saht, ein Mitglied unserer Bruderschaft zu entleiben, doch so gespannt ich auf Eure Erklärung für diese ungeheuerliche Tat bin, ist dies doch nicht die rechte Zeit dafür. Ich schlage vor, wir ...“
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