„Das wird er nicht“, knurrte Zara, stemmte sich mit einem Ruck in die Höhe, schob ihre Schwerter in die Scheiden zurück und nahm die Verfolgung auf, indes Thor bei Jael und Falk blieb, um sie zu beschützen, falls sich neuer Ärger regen sollte.
Als Zara das Friedhofstor erreichte, hastete der Zauberer bereits mit ausgreifenden Schritten auf den Waldrand zu, vielleicht hundert Schritte entfernt, doch die Vampirin hatte keine Mühe, ihn einzuholen. Noch ehe Wigalf den Schatten der ersten Bäume erreichte, war sie bei ihm, flink und lautlos wie ein Geist, und ohne jede Warnung gruben sich ihre Finger von hinten in seine Schulter, sodass Wigalf ein gequältes Keuchen ausstieß.
„Wohin so eilig?“, zischte Zara ihm ins Ohr und riss ihn zu sich herum. „Ich glaube, wir sollten uns mal unterhalten!“
„Ich ... ich habe dir nichts zu sagen!“, giftete Wigalf. Seine breiten Nasenflügel bebten, und der Hass strahlte ihm aus den Augen wie Jael das göttliche Licht. Er versuchte sich loszureißen, doch der einzige Erfolg war, dass Zara noch fester zupackte. „Du bist meine Verachtung nicht wert!“, zischte Wigalf.
Zara legte in gespielter Betroffenheit den Kopf schief. „Aber, aber ... Redet man etwa so mit einer Dame?“
Wigalf wollte etwas darauf erwidern, ihr Flüche und Verwünschungen an den Kopf schleudern, doch er hatte kaum den Mund aufgemacht, als Zara zuschlug. Links und rechts klatschte ihre Hand in sein Gesicht, und jammernd ging er zu Boden.
Zara packte den Zauberer am Kragen und zog ihn wie einen Sack Kartoffeln hinter sich her, zu ihren Gefährten zurück, die noch immer an jener Stelle des Friedhofs warteten, wo die Vampirin sie zurückgelassen hatte, doch beide sahen bereits um einiges besser aus. Falk hatte sich mit dem Rücken gegen einen Grabstein gelehnt, während die Seraphim mit Stofffetzen, die sie aus ihrem Rock gerissen hatte, seine Schulter verband. Die Wunde blutete zwar, war aber nicht tief und – wenn sie sich nicht entzündete – auch nicht lebensbedrohlich. Der plötzliche grauenvolle Schmerz und der Schock darüber, von einem Toten gebissen zu werden, der ihn bei lebendigem Leib fressen wollte, hatten Falk am allermeisten zugesetzt, weniger die Verletzung an sich.
Thor hockte neben den beiden auf den Hinterläufen wie eine Sphinx und knurrte böse, als Zara den Zauberer in ihre Mitte schleifte und ihn losließ, sodass er benommen liegen blieb. Seinen Stock hatte er irgendwo auf dem Weg hierher verloren. Zusammengekrümmt lag er da und stöhnte weinerlich; so hatte er sich ihren Besuch auf dem Friedhof wohl nicht vorgestellt.
Zara ging neben ihren Gefährten in die Knie und betrachtete Falks Schulter. „Wie geht’s ihm?“, fragte sie Jael, doch Falk war schon wieder soweit obenauf, dass er seine große Klappe aufriss.
„Ich werd’s überleben“, brummte er. „Diesem widerlichen Zombie wäre ich schlecht bekommen, weißt du, Zara? Ich bin nämlich ein verdammt zäher Brocken!“ Er ließ den Blick über den Totenacker schweifen, der ruhig und friedlich dalag, als wäre nichts geschehen, und trotzig fugte er hinzu: „Diesen untoten Pennern haben wir’s gezeigt, hm?“
Zara nickte. „Ja, denen haben wir’s gezeigt“, sagte sie und bedachte Jael mit einem undeutbaren Blick. „Mit ein wenig göttlichem Beistand ...“ Sie und die Seraphim sahen sich einen langen Moment schweigend an, und selbst Falk bemerkte, dass zwischen ihnen irgendetwas vorging, die nächste Stufe eines Prozesses, der sie schon auf ihrer ganzen Reise begleitete. Was auch immer zwischen diesen beiden so ungleichen Geschöpfen in der Vergangenheit vorgefallen war, nun standen sie auf derselben Seite, kämpften für dieselbe Sache, und da, wo Jahrhunderte lang Abscheu und Vorsicht gewesen waren, entstand allmählich Respekt und Anerkennung. Sie waren keine Freundinnen, und sie würden es vermutlich nie werden, aber sie achteten einander.
Zara warf Jael noch einen letzten Blick zu, bevor sie sich umwandte, sich vor Wigalf aufbaute und ihn auf die Füße zog. Er starrte Zara voller Bosheit an und zischte: „Spart es euch, eure Zeit mit mir zu verschwenden. Kein Wort kommt über meine Lippen! Ich werde euch nicht sagen, was ihr so dringend zu wissen wünscht, selbst wenn euch dieses Wissen nun auch nicht mehr helfen würde – weder euch noch dem erbärmlichen Rest dieser vor Schwäche und Mitleid stinkenden Welt!“
„Dann ist die letzte Stunde nah?“, forschte Zara.
Wigalf stockte, und für einen Moment schien sich sein Blick zu verdüstern. Doch dann zogen sich seine Lippen zu einem breiten Grinsen auseinander, und er giftete: „Nichts, was ihr sagen oder tun könnt, wird mich dazu bringen, euch in die Hände zu spielen, ihr verkommenen Maden!“
Zara starrte den Zauberer ein paar Sekunden lang mit seltsam unbewegter Miene an. Dann schlug sie mit der freien Linken zu, ohne ihn loszulassen. Der Zauberer krümmte sich, doch als er den Kopf wieder hob, war sein Wille ungebrochen.
„Mach, was du willst, Schlampe!“, zischte er trotzig. „Von mir erfährst du nichts! Ich fürchte weder den Tod noch den Schmerz, den du mir zuzufügen vermagst! Töte mich ruhig! Ich habe keine Angst vor dir, Hexe!“
Aus seinen Worten sprach der blanke Hass, doch die Vampirin verzog keine Miene. Sie sah dem Zauberer tief in die Augen, fast so, als wollte sie in ihnen lesen, um herauszufinden, wie ernst es ihm war, und schließlich kräuselten sich ihre Mundwinkel zu einem kleinen sardonischen Lächeln, das Falk einen kalten Schauer über den Rücken jagte. „Vor dem Tod brauchst du keine Angst zu haben“, sagte Zara. „Und vielleicht auch nicht vor mir. Vor ihr aber schon ...“
Und mit diesen Worten ließ sie ihre menschliche Maske fallen und zeigte dem Zauberer ihr wahres Gesicht!
Plötzlich wölbten sich ihre Augen- und Wangenknochen vor, das Weiß in ihren Augen durchzog sich mit roten Adern, und aus ihrem Oberkiefer wuchsen zwei lange elfenbeinfarbene Hauer. Einen Moment lang schien es, als wären die Muskeln unter Zaras Gesicht in hellem Aufruhr; es sah aus, als würden sie hin- und herwogen. Dann festigte sich der Ausdruck, und Zara zog Wigalf mit einem brutalen Ruck so nah zu sich heran, dass sein vor Schmerz verzerrtes Gesicht nur Zentimeter von ihrer grauenhaften Dämonenfratze entfernt war.
Wigalfs Augen waren groß und weiß wie Taubeneier – offenbar hatte er damit nicht gerechnet –, und sein trotziges Gehabe fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus.
„ Jetzt solltest du Angst haben!“, zischte Zara böse. Sie riss Wigalfs Kopf ruckartig zur Seite, ihr Gesicht mit den Fangzähnen zuckte unversehens vor, und ihre langen, nadelspitzen Hauer gruben sich tief in seinen Hals.
„Zara!“, rief Jael entsetzt. Die Seraphim wollte aufspringen und die Vampirin von ihrem Opfer wegreißen, doch Falk ergriff Jaels Unterarm und hielt sie zurück.
Einen Moment lang sah es trotzdem so aus, als würde Jael dazwischengehen, um Wigalf aus Zaras Fängen zu retten, doch irgendetwas hielt sie davon ab, und so blieb sie, wo sie war, und verfolgte gebannt und furchtsam, wie Zara den zappelnden Zauberer mühelos in ihrem eisernen Griff hielt und ihm mit tiefen, schlurfenden Zügen das Leben aussaugte.
Schließlich begannen Wigalfs Abwehrbewegungen fahriger und schwächer zu werden, und der Blick seiner weit aufgerissenen Augen umwölkte sich. Seine Mundwinkel zuckten. Sein Antlitz wurde zusehends blasser, je mehr Blut Zara ihm nahm.
Und mit jedem Zug, den sie trank, spürte Zara, wie ihre Gier zunahm, Wigalf bis zum letzten Tropfen auszusaugen. Einen schrecklichen Moment lang drohte die Bestie tief in ihr, die seit dem Massaker im Felskessel nahe Moorbruch ungeduldig an ihren Ketten zerrte, sich loszureißen und auszubrechen, doch Zara zwang sich, nicht die Kontrolle zu verlieren, und trank gerade so viel, wie nötig war.
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