Falk wurde abgelenkt, als plötzlich der Schatten eines Toten auf ihn fiel, der riesig wie ein Baum über ihm emporragte. Beim Anblick des am Boden liegenden Mannes stieß der Zombie ein erdiges Brummen aus, stakste näher und streckte die Klauen nach Falk aus, der zwar alles sah und hörte, was geschah, sich aber völlig unbeteiligt fühlte, so als würde es nicht um ihn selbst gehen, als wäre er lediglich Zeuge dessen, was jemand anderem widerfuhr. Wie ein stummer Beobachter verfolgte er seltsam teilnahmslos, wie der Untote auf die Knie fiel, mit beiden Händen Falks rechten Arm umklammerte und gerade seine Zähne hineinschlagen wollte, als plötzlich Zara hinter ihm auftauchte und ihre Schwerter wirbeln ließ.
Dann war auch Jael da, und gemeinsam drängten sie den Untoten von Falk weg. Sie stellten sich neben ihrem verletzten Kameraden, um ihn gegen die stetig nachrückenden Zombies zu verteidigen. Falk sah seine Gefährtinnen vage – wie durch Nebel – über sich aufragen, und ihre Stimmen drangen gedämpft an sein Ohr.
„Es geht nicht“, keuchte Zara angestrengt, während sie einem weiteren Gegner den Schädel vom Rumpf trennte. „Wir können sie nicht besiegen!“
Sie hatte Recht: Die Untoten waren überall, und es wurden einfach nicht weniger. Sie waren vielleicht nicht schnell und nicht besonders klug, aber sie waren zahlreich, und sie würden einfach immer weitermachen, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Jael und Zara konnten nicht gewinnen!
„Wir können “, widersprach Jael, mit dem Rücken zu Zara. „Und wir werden !“
Die Seraphim schlug noch einmal mit ihrem Schwert zu, um sich ein wenig Bewegungsfreiheit zu verschaffen, und dann tat sie etwas Seltsames, ja, Unbegreifliches: Sie rammte ihr Schwert vor sich in den Boden, sodass der Schwertgriff ein wippendes Kreuz bildete, das Symbol jener Ein-Gott-Religion, die in Ancaria immer mehr Anhänger fand. Jael fiel auf die Knie, schloss die Augen, faltete die Hände – und begann wortlos zu beten!
Falk sah aus seiner verzerrten Perspektive, wie Zara verblüfft blinzelte. Die Vampirin wollte Jael gerade anbrüllen, was, bei allen Göttern, sie da eigentlich tat, doch dann hielt sie plötzlich inne, als sie sah, dass mit Jael irgendetwas vorging. Ihre Lippen bewegten sich, als würde sie sprechen, doch kein Laut drang aus ihrem Mund; dafür war es, als würde feiner weißer Nebel daraus hervorquellen, der irgendwie zu strahlen schien, zumindest kam es Falk so vor. Der Nebel war von einem hellen Weiß, als wäre es eher nebelförmiges Licht, das aus Jaels Mund floss und geistergleich um ihren Kopf wallte, während die Zombies von allen Seiten heranrückten, doch Jael ließ nicht erkennen, dass sie davon überhaupt etwas mitbekam. Sie kniete einfach nur da und betete mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen, während dieser seltsame weiße Lichtnebel aus ihrem Mund drang – und dann, gerade, als die ersten der Untoten die Hände nach ihr ausstreckten, lief plötzlich ein heftiger Ruck durch ihren Körper, Jael versteifte, und als sie ihre Augen plötzlich wieder öffnete, war es, als wäre von einer Sekunde zur anderen helllichter Tag. Grelles weißes Licht toste durch die Gräberreihen.
Falk starrte in die Helligkeit, und die Schleier der Benommenheit vor seinen Augen wurden formlich weggebrannt, um einer Erschöpfung Platz zu schaffen, wie er sie noch nie empfunden hatte. Sein Blick verschwamm, sein Verstand flackerte wie eine Kerze im Wind, die jeden Moment zu verlöschen drohte. Er stöhnte. Alles, was danach geschah, nahm Falk nur noch in Fragmenten wahr, wie einen bruchstückhaften Traum – oder vielmehr so, als würde er immer wieder für kurze Zeit aus einem traumlosen Schlaf erwachen und flüchtig mitbekommen, was vorging, schlaglichtartige Bilder und Eindrücke, auf die er sich keinen rechten Reim machen konnte.
Da war dieses alles umfassende weiße Licht, das die ganze Welt in grelle Helligkeit zu tauchen schien wie ein Blitz in dunkler Nacht, der am Himmel einfror. Alles wurde weiß und unwirklich, und in diesem Weiß zeichneten sich die Schemen der Untoten als vage Silhouetten ab, Schatten innerhalb der Helligkeit, die irgendwie von Jael auszugehen schien, die noch immer auf dem Boden kniete und die Hände wie zum Gebet gefaltet hatte. Doch da, wo einmal ihre Augen gewesen waren, waren jetzt strahlende Gruben; gleißende weiße Lichtbalken schossen aus ihren Augenhöhlen wie Speere. Ihr Gesicht strahlte so hell wie die Sonne, und dann riss sie den Mund auf, und eine weitere Woge Helligkeit brandete über den Friedhof, eine Welle aus Licht, die über die wieder auferstandenen Toten hinwegspülte und sie mit sich fortriss.
Benommen sah Falk, wie die Zombies in dem weißen Licht schmolzen wie Kerzen, so als würde die Helligkeit sie verbrennen.
Das, was von ihrem Fleisch und ihren Muskeln noch übrig war, schien sich wie bei großer Hitze zu verflüssigen. Die unheimlichen Totenfratzen zerliefen wie Honig in einem Tiegel. Sogar die Knochen lösten sich auf. Einer nach dem anderen stürzten die Untoten zu Boden und schmolzen an Ort und Stelle.
Das alles bekam Falk mit, doch begreifen konnte er es nicht. Es war schon nicht zu fassen, dass er in dieser gleißenden Helligkeit überhaupt sehen konnte, dass seine Netzhäute nicht verbrannten.
Auch Zara konnte trotz des grellen Lichts alles sehen und war nicht weniger fassungslos. Mit trotz der Fluten aus Helligkeit weit aufgerissenen Augen sah sie, wie die Zombies dahinschmolzen.
Das Licht, das aus Jaels Augen und ihrem Mund drang und den ganzen Friedhof erfüllte, verbrannte die Untoten, von denen nun keiner mehr aufstand!
Zaras Blick glitt zu Jael, die inmitten des Gleißens kniete, ihre Gestalt umstrahlt von göttlichem Licht, das Antlitz zugleich so schrecklich entstellt und so überirdisch schön, dass es nicht in Worte zu fassen war. Für einen kurzen Moment glaubte die Vampirin, über Jaels Schultern Schwingen aus sphärischer Helligkeit zu erblicken. Dann lief plötzlich ein Zittern durch Jaels Körper, und genauso abrupt, wie sie stocksteif geworden war, schwand schlagartig alle Spannung aus ihr. Jael war mit ihrer Kraft am Ende. Mit einem resignierten Stöhnen schloss sie die Augen, und das strahlende weiße Licht war weg – wie abgeschnitten, so als habe sie die göttliche Helligkeit, die in ihr wohnte, wieder dort eingesperrt, wohin sie gehörte. Tröstliche Dunkelheit senkte sich über den Friedhof, während die Seraphim entkräftet in sich zusammensackte.
Zara schaffte es gerade noch, sie aufzufangen, und ließ sie sanft zu Boden gleiten, wo Jael reglos, mit unbewegtem Gesicht, liegen blieb. Ihr porzell an weißes Antlitz war noch blasser geworden, und aus ihren Nasenlöchern schwebten letzte Schwaden weißen Lichts wie Nebel, der langsam in der Schwärze der Nacht verging. Und dann war das Licht fort, und sie waren allein.
Neben Jael kniend, hob Zara den Kopf und ließ ihren Blick über den jetzt friedlich daliegenden Totenacker schweifen.
Drüben beim Tor erregte eine hastige Bewegung ihre Aufmerksamkeit: Wigalf hatte seine arrogante Überheblichkeit verloren und machte sich davon, so schnell er konnte; offenbar hatte er keine weiteren Zaubertricks mehr im Ärmel. Er griff nach Kjells Zügeln, doch der Hengst wieherte wütend, stieg auf die Hinterläufe und trat nach dem Zauberer aus, der fluchend einige Schritte zurückwich und hinüber zum Friedhof starrte, das Gesicht eine Fratze der Wut und Enttäuschung.
Dann wirbelte er herum und eilte mit wehendem Mantel und wippendem Stock davon. Zumindest hatte er vorhin bei einer Sache nicht gelogen: Er war schlecht zu Fuß.
Jael starrte Wigalf mit müdem Blick nach; mit dem Licht schien auch alle Kraft aus ihrem Körper gewichen zu sein. „Er darf ... nicht entkommen ...“, sagte sie schwach, die Worte kaum mehr als ein Murmeln.
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