Der Gedanke schien lächerlich, und doch ... Noch vor kurzer Zeit hatte Zara geglaubt, sie selbst wäre das Wunderlichste und Absonderlichste, was es auf Ancarias Boden zu bestaunen gab. Doch sie brauchte nur hinüber zur Großen Burg zu schauen, um zu erkennen, wie einfaltig diese Annahme gewesen war. Tatsächlich gelangte sie mehr und mehr zu dem Schluss, dass es nichts gab, was es nicht gab; angesichts von Blutbestien, Zauberritualen mit Jungfrauenherzen und einer wahnsinnigen Sekte, die sich anschickte, das Tor zur Hölle zu öffnen, um eine Horde Chaos-Dämonen in diese Welt zu entlasen. Ein Zauberer, der willens und im Stande war, sich in einen Vogel zu verwandeln, war nicht abwegiger als ein Friedhof voller zum Leben erweckter Toter.
Sie besah sich den Vogel genauer, der über ihnen auf der Dachrinne saß und den Blick unstet zwischen ihnen hin- und herzucken ließ, und da fiel ihr auf, dass dem Tier das linke Auge fehlte!
Der Zauberer erhob sich, und einen Moment lang sah es so aus, als wollte er mit seinem Stock nach dem Vogel schlagen, doch dann wiederholte er nur noch einmal: „Ich muss gehen.“
Er war schon halb aus der Gasse, als Jael ihn mit zwei schnellen Schritten einholte, ihn an der Schulter packte und zu sich herumdrehte. „Wartet!“, sagte sie. „Noch einen Augenblick!“
Salman starrte sie gehetzt an, das Gesicht bleich wie Kalk, und mit hängenden Schultern stand er da.
„Was ist mit den anderen Zauberern?“, fragte Jael. „Jenen, die bereit sind, gegen den Kult vorzugehen? Werden sie uns helfen?“
Salman zuckte mit den Schultern. „Bedaure, aber Ihr solltet nicht auf Unterstützung zählen – Eure Hoffnung wäre vergebens.“
Jael hatte noch weitere Fragen – Dutzende sogar –, doch ehe sie noch dazu kam, eine einzige zu stellen, wirbelte Salman in einem Anflug von nackter Panik herum, riss sich dabei los und eilte mit ausgreifenden Schritten durch die Hauptgasse davon. Die Seraphim überlegte, ihn erneut aufzuhalten, aber sie ahnte, dass es keinen Sinn haben würde; Salman war durch das Auftauchen des Vogels derart beunruhigt, dass ihm die Angst schier aus den Augen leuchtete. Er ergriff vor dem Raben förmlich die Flucht, der just in diesem Moment krächzend und flügelschlagend von der Dachrinne aufstieg.
Salman beschleunigte seine Schritte, bis er lief. Beinahe konnte man meinen, der Mann hätte Todesangst, und vielleicht stimmte das sogar.
Zara wandte ihre Aufmerksamkeit dem Raben zu, der mit langsamen Schlägen seiner großen schwarzen Schwingen durch die Lüfte schwebte, in Richtung der Großen Burg, und wieder kam ihr in den Sinn, dass das, was sie für einen Vogel hielten, vielleicht etwas ganz anderes – jemand anderes – war. Dann verschwand der Rabe hinter den Schornsteinen, und nur noch das Klappern von Salmans Stock auf dem Kopfsteinpflaster, das seinen übereilten Abgang begleitete, war zu hören.
„Was, wenn das wieder eine Falle ist?“, sagte Falk nachdenklich. „So wie die Sache mit Wigalf und dem Friedhof? Was, wenn wir bereits von einer Horde Sakkara-Priester oder Höllendämonen oder noch Schlimmerem erwartet werden, wenn wir in Drakenschanze aufkreuzen?“
„Ich glaube nicht, dass wir uns darüber Gedanken machen müssen“, sagte Jael, plötzlich wieder so resigniert wie zuvor. Vor Salman hatte sie sich zusammengerissen, um sich den Sturm der Emotionen, der in ihr tobte, nicht anmerken zu lassen. Nun waren die drei Gefährten und der Wolf wieder unter sich, und die Verzweiflung schwappte erneut über Jael hinweg, wenn auch nun aus einem anderen Grund als zuvor. „Selbst wenn das Ritual wirklich in Drakenschanze stattfindet, was in keinster Weise sicher ist ... es ist vorbei.“ Sie stieß ein müdes Seufzen aus und lehnte sich gegen die brüchige Hauswand, als wäre sie mit einem Mal zu schwach, um sich aus eigener Kraft auf den Beinen zu halten. „Das war’s. Hier endet unsere Reise – und diesmal endgültig.“
Falk sah sie verwirrt an. „Häh?“, war alles, was er dazu sagen konnte.
„Drakenschanze ist einen Wochenritt von hier entfernt“, erklärte Zara, als sie seinen fragenden Blick bemerkte. „Mindestens. Der Ort liegt jenseits des Gebirges, tief in den Sümpfen der Dunklen Gebiete, noch ein gutes Stück weiter nördlich als Moorbruch, zwischen Schönblick und Finsterwinkel. Wir können niemals rechtzeitig dort sein, um das Ritual zu verhindern! Und deshalb ...“ Wieder dieses müde, traurige Seufzen. „Deshalb ist es für uns unmöglich, noch einzugreifen. Am besten kehren wir in die Schenke ein, bestellen uns Met, betrinken uns bis zum Umfallen und warten darauf, dass das Ende auch uns erreicht. Denn verhindern können wir es nicht.“
„Aber das kann es nicht gewesen sein!“, widersprach Falk trotzig. „Nach allem, was wir durchgemacht haben, um hierher zu gelangen, kann es nicht so enden!“ Er sah die Vampirin an, doch Zara zuckte bloß mit den Schultern, als spielte es keine Rolle, was er dachte, und auch Jael schwieg, doch ihre niedergeschlagene Miene verriet, dass die Seraphim derselben Meinung war wie die Vampirin.
Sie konnten die „letzte Stunde“ nicht verhindern.
Aus. Ende. Vorbei ...
Der alte Falk, der bloß an sich selbst und seinen Schnitt dachte und sich nie um die Belange anderer geschert hatte, hätte sich Zaras Meinung vermutlich angeschlossen und sich schon mal Gedanken darüber gemacht, wie man sich mit der neuen Ordnung am vorteilhaftesten arrangieren könnte. Aber der neue Falk – der Falk, der beweisen wollte, dass er doch etwas wert war; der Falk, der die Welt retten wollte – war nicht bereit, so schnell aufzugeben.
„Aber irgendwie müssen die Verschwörer auch dorthin gelangt sein“, sagte er. „Egal, wie weit Drakenschanze von hier entfernt ist, es muss einen Weg geben, um schnell dorthin und wieder zurückzugelangen. Ich meine, wenn plötzlich einige der Zauberer aus der Enklave zwei Wochen lang fehlten, nur um mal eben an irgendwelchen schwarzmagischen Ritualen in den Sümpfen teilzunehmen, wäre das selbst so einem Ignoranten wie Godrik aufgefallen, und dann hätte Salman vermutlich auch was darüber gesagt.“ Seine Stirn legte sich in Furchen, als er angestrengt darüber nachdachte. Dabei brabbelte er halblaut vor sich hin: „Aber wie nur? Was ist der Trick? Wie haben sie da gema...“ Und dann fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen, und als er den Kopf wieder hob, grinste er über das ganze Gesicht.
„ Magische Portale und wie man sie öffnet !“, sagte er triumphierend.
Jael sah ihn irritiert an. „Wie? Was?“
„Dieses Buch lag in Zaks Turmkammer auf dem Tisch“, erklärte Falk, mit einem Mal ganz aufgedreht. „Magische Portale und wie man sie öffnet. Ich nehme an, dass das Buch nicht einfach so in der Kammer lag, sondern weil Zak es dorthin gelegt hat; weil Zak es womöglich benutzt hat!“ Er war so begeistert von seiner Idee, dass seine Augen vor kindlicher Freude leuchteten. „Zak hat mit Hilfe dieses Buchs magische Portale geöffnet, um ohne Zeitverlust von seinem Turm zu jedem beliebigen anderen Ort im Königreich zu reisen. Damm haben ihn über die Jahre auch immer wieder Leute in irgendwelchen Regionen von Ancaria gesehen!“, hielt er Jael vor, als wollte er sie anklagen, dass die Seraphim nicht selbst schon längst auf diesen Gedanken gekommen war. „Weil er wirklich dort war, und zwar mit Hilfe von magischen Portalen. Und wenn Iliam Zak dazu im Stande war, durch ein solches Portal an jeden beliebigen Ort des Königreichs zu gelangen, dann können wir das auch!“ Falk grinste. „Es ist noch nicht zu spät!“, sagte er aufgeregt. „Noch haben wir eine Chance!“
Jael und Zara wechselten einen Blick, und Zara schob die Unterlippe vor und zuckte mit den Schultern, so als wäre sie bereit, Falks Theorie durchaus in Betracht zu ziehen.
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