Harry rieb sich die Stirn.
»Ich möchte wissen, was das bedeutet!«, stieß er zornig hervor. »Meine Narbe tut die ganze Zeit weh – das ist schon mal vorgekommen, aber so schlimm war es noch nie!«
»Geh zu Madam Pomfrey«, schlug Hermine vor.
»Ich bin nicht krank«, sagte Harry. »Ich glaube, es ist ein Warnzeichen… es bedeutet Gefahr… «
Ron mochte sich deswegen nicht aus der Ruhe bringen lassen, dafür war es ihm zu heiß.
»Entspann dich, Harry. Hermine hat Recht, der Stein ist in Sicherheit, solange Dumbledore hier ist. Außerdem haben wir immer noch keinen Beweis dafür, daß Snape herausgefunden hat, wie er an Fluffy vorbeikommen kann. Einmal hat er ihm fast das Bein abgerissen und so schnell wird Snape es nicht wieder versuchen. Und ehe Hagrid Dumbledore im Stich läßt, spielt Neville Quidditch in der englischen Nationalmannschaft.«
Harry nickte, doch er konnte ein untergründiges Gefühl nicht abschütteln, daß er etwas zu tun vergessen hatte -etwas Wichtiges. Er versuchte es den andern zu erklären, doch Hermine meinte:»Das sind nur die Prüfungen. Gestern Nacht bin ich aufgewacht und war schon halb durch meine Aufzeichnungen über Verwandlungskunst, bis mir einfiel, daß wir das schon hinter uns haben.«
Harry war sich jedoch ganz sicher, daß dieses beunruhigende Gefühl nichts mit dem Schulstoff zu tun hatte. Seine Augen folgten einer Eule, die mit einem Brief im Schnabel am hellblauen Himmel hinüber zur Schule flatterte. Hagrid war der Einzige, der ihm je Briefe schickte. Hagrid würde Dumbledore nie verraten. Hagrid würde nie jemandem erzählen, wie man an Fluffy vorbeikam… nie… aber -
Plötzlich sprang Harry auf die Beine
»Wo willst du hin?«, sagte Ron schläfrig.
»Mir ist eben was eingefallen«, sagte Harry. Er war bleich geworden. »Wir müssen zu Hagrid, und zwar gleich.«
»Warum?«, keuchte Hermine, mühsam Schritt haltend.
»Findest du es nicht ein wenig merkwürdig«, sagte Harry, den grasbewachsenen Abhang emporhastend,»daß Hagrid sich nichts sehnlicher wünscht als einen Drachen und dann überraschend ein Fremder auftaucht, der zufällig gerade ein Ei in der Tasche hat? Wie viele Leute laufen mit Dracheneiern herum, wo es doch gegen das Zauberergesetz ist? Ein Glück, daß er Hagrid gefunden hat. Warum hab ich das nicht schon vorher gesehen?«
»Worauf willst du hinaus?«, fragte Ron, doch Harry, der jetzt über das Schloßgelände zum Wald hinüberrannte, antwortete nicht.
Hagrid saß in einem Lehnstuhl vor seiner Hütte, die Ärmel und Hosenbeine hochgerollt; über eine große Schüssel gebeugt enthülste er Erbsen.
»Hallooh«, sagte er lächelnd. »Fertig mit den Prüfungen? Wollt ihr was trinken?«
»Ja, bitte«, sagte Ron, doch Harry schnitt ihm das Wort ab.
»Nein, keine Zeit, Hagrid, ich muß dich was fragen. Erinnerst du dich noch an die Nacht, in der du Norbert gewonnen hast? Wie sah der Fremde aus, mit dem du Karten gespielt hast?«
»Weiß nicht«, sagte Hagrid lässig,»er wollte seinen Kapuzenmantel nicht ablegen.«
Er sah, wie verdutzt die drei waren, und hob die Augenbrauen.
»Das ist nicht so ungewöhnlich, da gibt's 'ne Menge seltsames Volk im Eberkopf – das ist der Pub unten im Dorf Hätt 'n Drachenhändler sein können, oder? Sein Gesicht hab ich nicht gesehen, er hat seine Kapuze aufbehalten.«
Harry ließ sich langsam neben der Erbsenschüssel zu Boden sinken.
»Worüber habt ihr gesprochen, Hagrid? Hast du zufällig Hogwarts erwähnt?«
»Könnte mal vorgekommen sein«, sagte Hagrid und runzelte die Stirn, während er sich zu erinnern versuchte. »ja… er hat mich gefragt, was ich mache, und ich hab ihm gesagt, ich sei Wildhüter hier… Er wollte hören, um was für Tiere ich mich kümmere… also hab ich's ihm gesagt… und auch, daß ich immer gerne einen Drachen haben wollte… und dann… ich weiß nicht mehr genau, weil er mir ständig was zu Trinken spendiert hat… Wartet mal… ja, dann hat er gesagt, er hätte ein Drachenei und wir könnten darum spielen, Karten, wenn ich wollte… aber er müsse sicher sein, daß ich damit umgehen könne, er wolle es nur in gute Hände abgeben… Also hab ich ihm gesagt, im Vergleich zu Fluffy wär ein Drache doch ein Kinderspiel… «
»Und schien er… schien er sich für Fluffy zu interessieren?«, fragte Harry mit angestrengt ruhiger Stimme.
»Nun – ja – wie viele dreiköpfige Hunde trifft. man schon, selbst um Hogwarts herum? Also hab ich ihm gesagt, Fluffy ist ein Schoßhündchen, wenn man weiß, wie man ihn beruhigt, spiel ihm einfach 'n wenig Musik vor, und er wird auf der Stelle einschlafen -«
Plötzlich trat Entsetzen auf Hagrids Gesicht.
»Das hätt ich euch nicht sagen sollen!«, sprudelte er hervor. »Vergeßt es! Hei – wo lauft ihr hin?«
Harry, Ron und Hermine sprachen kein Wort miteinander, bis sie in der Eingangshalle ankamen, die nach dem sonnendurchfluteten Schloßhof sehr kalt und düster wirkte.
»Wir müssen zu Dumbledore«, sagte Harry. »Hagrid hat diesem Fremden gesagt, wie man an Fluffy vorbeikommt, und unter diesem Mantel war entweder Snape oder Voldemort – es muß ganz leicht gewesen sein, sobald er Hagrid betrunken gemacht hat. Ich kann nur hoffen, daß Dumbledore uns glaubt. Firenze hilft uns vielleicht, wenn Bane ihn nicht daran hindert. Wo ist eigentlich Dumbledores Arbeitszimmer?«
Sie sahen sich um, als hofften sie, ein Schild zu sehen, das ihnen den Weg wies. Nie hatten sie erfahren, wo Dumbledore lebte, und sie kannten auch keinen, der jemals zu Dumbledore geschickt worden war.
»Dann müssen wir eben -«, begann Harry, doch plötzlich drang eine gebieterische Stimme durch die Halle.
»Was machen Sie drei denn hier drin?«
Es war Professor McGonagall, mit einem hohen Stapel Bücher in den Armen.
»Wir möchten Professor Dumbledore sprechen«, sagte Hermine recht kühn, wie Harry und Ron fanden.
»Professor Dumbledore sprechen?«, wiederholte Professor McGonagall, als ob daran etwas faul wäre. »Warum?«
Harry schluckte – was nun?
»Es ist sozusagen geheim«, sagte er, bereute es jedoch gleich, denn Professor McGonagalls Nasenflügel fingen an zu beben.
»Professor Dumbledore ist vor zehn Minuten abgereist«, sagte sie kühl. »Er hat eine eilige Eule vom Zaubereiministerium erhalten und ist sofort nach London geflogen.«
»Er ist fort?«, sagte Harry verzweifelt. »Gerade eben?«
»Professor Dumbledore ist ein sehr bedeutender Zauberer, Potter, er wird recht häufig in Anspruch genommen -«
»Aber es ist wichtig.«
»Etwas, das Sie zu sagen haben, ist wichtiger als das Zaubereiministerium, Potter?«
»Sehen Sie«, sagte Harry und ließ alle Vorsicht fahren,»Professor – es geht um den Stein der Weisen -«
Was immer Professor McGonagall erwartet hatte, das war es nicht. Die Bücher in ihren Armen plumpsten zu Boden.
»Woher wissen Sie das?«, prustete sie los.
»Professor, Ich glaube – ich weiß – daß Sn…, daß jemand versuchen wird den Stein zu stehlen. Ich muß Professor Dumbledore sprechen.«
Sie musterte ihn mit einer Mischung aus Entsetzen und Mißtrauen.
»Professor Dumbledore wird morgen zurück sein«, sagte sie schließlich. »Ich weiß nicht, wie Sie von dem Stein erfahren haben, aber seien Sie versichert, daß niemand in der Lage ist, ihn zu stehlen, er ist bestens bewacht.«
»Aber, Professor -«
»Potter, ich weiß, wovon ich spreche«, sagte sie barsch. Sie bückte sich und hob die Bücher auf »Ich schlage vor, Sie gehen alle wieder nach draußen und genießen die Sonne.«
Doch das taten sie nicht.
»Heute Nacht passiert es«, sagte Harry, sobald er sicher war, daß Professor McGonagall sie nicht mehr hören konnte. »Heute Nacht steigt Snape durch die Falltür. Er hat alles herausgefunden, was er braucht, und jetzt hat er Dumbledore aus dem Weg geschafft. Diesen Brief hat er geschickt. Ich wette, im Zaubereiministerium kriegen sie einen gewaltigen Schrecken, wenn Dumbledore dort auftaucht.«
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