Ich nehme einfach den Zug um elf Uhr von Gleis neundreiviertel«, las er laut.
Tante und Onkel starrten ihn an.
»Gleis wie viel?«
»Neundreiviertel.«
»Red keinen Stuß«, sagte Onkel Vernon,»es gibt kein Gleis neundreiviertel.«
»Es steht auf meiner Fahrkarte.«
»Total verrückt«, sagte Onkel Vernon,»vollkommen übergeschnappt, das ganze Pack. Du wirst sehen. Wart's nur ab. Gut, wir fahren dich nach King's Cross. Wir müssen morgen ohnehin nach London, sonst würd ich mir die Mühe ja nicht machen.«
»Warum fahrt ihr nach London?«, fragte Harry, um das Gespräch ein wenig freundlich zu gestalten.
»Wir bringen Dudley ins Krankenhaus«, knurrte Onkel Vernon. »Bevor er nach Smeltings kommt, muß dieser vermaledeite Schwanz weg.«
Am nächsten Morgen wachte Harry um fünf Uhr auf viel zu aufgeregt und nervös, um wieder einschlafen zu können. Er stieg aus dem Bett und zog seine Jeans an, weil er nicht in seinem Zaubererumhang auf dem Bahnhof erscheinen wollte – er würde sich dann im Zug umziehen. Noch einmal ging er die Liste für Hogwarts durch, um sich zu vergewissern, daß er alles Nötige dabei hatte, und schloß Hedwig in ihren Käfig ein. Dann ging er im Zimmer auf und ab, darauf wartend, daß die Dursleys aufstanden. Zwei Stunden später war Harrys riesiger, schwerer Koffer im Wagen der Dursleys verstaut, Tante Petunia hatte Dudley überredet, sich neben Harry zu setzen, und los ging die Fahrt.
Sie erreichten King's Cross um halb elf. Onkel Vernon packte Harrys Koffer auf einen Gepäckwagen und schob ihn in den Bahnhof Harry fand dies ungewöhnlich freundlich von ihm, bis Onkel Vernon mit einem häßlichen Grinsen auf dem Gesicht vor den Bahnsteigen Halt machte.
»Nun, das war's, Junge. Gleis neun – Gleis zehn. Dein Gleis sollte irgendwo dazwischen liegen, aber sie haben es wohl noch nicht gebaut, oder?«
Natürlich hatte er vollkommen Recht. Über dem Bahnsteig hing auf der einen Seite die große Plastikziffer 9, über der anderen die große Plastikziffer 10, und dazwischen war nichts.
»Na dann, ein gutes Schuljahr«, sagte Onkel Vernon mit einem noch häßlicheren Grinsen. Er verschwand ohne ein weiteres Wort zu sagen. Harry wandte sich um und sah die Dursleys wegfahren. Alle drei lachten. Harrys Mund wurde ganz trocken. Was um Himmels willen sollte er tun? Schon richteten sich viele erstaunte Blicke auf ihn – wegen Hedwig. Er mußte Jemanden fragen.
Er sprach einen vorbeigehenden Wachmann an, wagte es aber nicht, Gleis neundreiviertel zu erwähnen. Der Wachmann hatte nie von Hogwarts gehört, und als Harry ihm nicht einmal sagen konnte, in welchem Teil des Landes die Schule lag, wurde er zusehends ärgerlich, als ob Harry sich absichtlich dumm anstellen würde. Schon ganz verzweifelt fragte Harry nach dem Zug, der um elf Uhr ging, doch der Wachmann meinte, es gebe keinen. Eine mürrische Bemerkung über Zeitverschwender auf den Lippen ging er schließlich davon. Harry versuchte mit aller Macht, ruhig Blut zu bewahren. Der großen Uhr über der Ankunfttafel nach hatte er noch zehn Minuten, um in den Zug nach Hogwarts zu steigen, und er hatte keine Ahnung, wie er das anstellen sollte. Da stand er nun, verloren mitten auf einem Bahnhof, mit einem Koffer, den er kaum vom – Boden heben konnte, einer Tasche voller Zauberergeld und einer großen Eule.
Hagrid mußte vergessen haben, ihm zu sagen, daß er etwas Bestimmtes tun sollte, so wie man auf den dritten Backstein zur Linken klopfen mußte, um auf die Winkelgasse zu kommen. Sollte er vielleicht seinen Zauberstab herausholen und auf den Fahrkartenschalter zwischen Gleis neun und Gleis zehn klopfen?
In diesem Augenblick ging eine Gruppe von Menschen dicht hinter ihm vorbei und er schnappte ein paar Worte ihrer Unterhaltung auf.
»… voller Muggel, natürlich… «
Harry wandte sich rasch um. Gesprochen hatte eine kugelrunde Frau, um sie herum vier Jungen, allesamt mit flammend rotem Haar. Jeder der vier schob einen Koffer, so groß wie der Harrys, vor sich her – und sie hatten eine Eule dabei.
Mit klopfendem Herzen schob Harry seinen Gepäckwagen hinter ihnen her. Sie hielten an, und auch Harry blieb stehen, dicht genug hinter ihnen, um sie zu hören.
»So, welches Gleis war es noch mal?«, fragte die Mutter der Jungen.
»Neundreiviertel«, piepste ein kleines Mädchen an ihrer Hand, das ebenfalls rote Haare hatte. »Mammi, kann ich nicht mitgehen… «
»Du bist noch zu klein, Ginny, und jetzt sei still. Percy, du gehst zuerst.«
Der offenbar älteste Junge machte sich auf den Weg in Richtung Bahnsteig neun und zehn. Harry beobachtete ihn, angestrengt darauf achtend, nicht zu blinzeln, damit ihm nichts entginge – doch gerade als der Junge die Absperrung zwischen den beiden Gleisen erreichte, schwärmte eine große Truppe Touristen an ihm vorbei, und als der letzte Rucksack sich verzogen hatte, war der Junge verschwunden.
»Fred, du bist dran«, sagte die rundliche Frau.
»Ich bin nicht Fred, ich bin George«, sagte der Junge. »Ehrlich mal, gute Frau, du nennst dich unsere Mutter? Kannst du nicht sehen, daß ich George bin?«
»Tut mir Leid, George, mein Liebling.«
»War nur'n Witz, ich bin Fred«, sagte der Junge, und fort war er. Sein Zwillingsbruder rief ihm hinterher, er solle sich beeilen, und das mußte er getan haben, denn eine Sekunde später war er verschwunden – doch wie hatte er es geschafft?
Nun schritt der dritte Bruder zügig auf die Bahnsteigabsperrung zu – er war schon fast dort -, und dann, ganz plötzlich, war er nicht mehr zu sehen.
Er war spurlos verschwunden.
»Entschuldigen Sie«, sagte Harry zu der rundlichen Frau.
»Hallo, mein Junge«, sagte sie. »Das erste Mal nach Hogwarts? Ron ist auch neu.«
Sie deutete auf den letzten und jüngsten ihrer Söhne. Er war hoch gewachsen, dünn und schlaksig, hatte Sommersprossen, große Hände und Füße und eine kräftige Nase.
»Ja«, sagte Harry. »Die Sache ist die… ist nämlich die, ich weiß nicht, wie ich… «
»Wie du zum Gleis kommen sollst?«, sagte sie freundlich, und Harry nickte.
»Keine Sorge«, sagte sie. »Du läufst einfach schnurstracks auf die Absperrung vor dem Bahnsteig für die Gleise neun und zehn zu. Halt nicht an und hab keine Angst, du könntest dagegen knallen, das ist sehr wichtig. Wenn du nervös bist, dann renn lieber ein bißchen. Nun geh, noch vor Ron.«
»Ähm -ja«, sagte Harry.
Er drehte seinen Gepäckwagen herum und blickte auf die Absperrung. Sie machte einen sehr stabilen Eindruck.
Langsam ging er auf sie zu. Menschen auf dem Weg zu den Gleisen neun oder zehn rempelten ihn an. Harry beschleunigte seine Schritte. Er würde direkt in diesen Fahrkartenschalter knallen, und dann hätte er ein echtes Problem. Er lehnte sich, auf den Wagen gestützt, nach vorn und stürzte nun schwer atmend los – die Absperrung kam immer näher – anhalten konnte er nun nicht mehr – der Gepäckkarren war außer Kontrolle – noch ein halber Meter – er schloß die Augen, bereit zum Aufprall -
Nichts geschah… Harry rannte weiter… er öffnete die Augen.
Eine scharlachrote Dampflok stand an einem Bahnsteig bereit, die Waggons voller Menschen. Auf einem Schild über der Lok stand Hogwarts-Express, 11 Uhr. Harry warf einen Blick über die Schulter und sah an der Stelle, wo der Fahrkartenschalter gestanden hatte, ein schmiedeeisernes Tor und darauf die Worte Gleis neundreiviertel. Er hatte es geschafft.
Die Lok blies Dampf über die Köpfe der schnatternden Menge hinweg, während sich hie und da Katzen in allen Farben zwischen den Beinen der Leute hindurchschlängelten. Durch das Geschnatter der Wartenden und das Kratzen der schweren Koffer schrien sich Eulen gegenseitig etwas mürrisch an.
Die ersten Waggons waren schon dicht mit Schülern besetzt. Einige lehnten sich aus den Fenstern und sprachen mit ihren Eltern und Geschwistern, andere stritten sich um Sitzplätze. Auf der Suche nach einem freien Platz schob Harry seinen Gepäckwagen weiter den Bahnsteig hinunter. Er kam an einem Jungen mit rundem Gesicht vorbei und hörte ihn klagen:»Oma, ich hab schon wieder meine Kröte verloren.«
Читать дальше
Конец ознакомительного отрывка
Купить книгу