Vampire? Hexen? Harry war leicht schwindelig. Unterdessen zählte Hagrid die Backsteine an der Mauer über dem Mülleimer ab.
»Drei nach oben… zwei zur Seite… «, murmelte er. »Gut, einen Schritt zurück, Harry«
Mit der Spitze des Schirms klopfte er dreimal gegen die Mauer.
Der Stein, auf den er geklopft hatte, erzitterte, wackelte und in der Mitte erschien ein kleiner Spalt. – Der wurde immer breiter und eine Sekunde später standen sie vor einem Torbogen, der selbst für Hagrid groß genug war. Er führte hinaus auf eine gepflasterte Gasse, die sich in einer engen Biegung verlor.
»Willkommen in der Winkelgasse«, sagte Hagrid.
Harrys verblüffter Blick ließ ihn verschmitzt lächeln.
Sie traten durch den Torbogen. Harry blickte rasch über die Schulter und konnte gerade noch sehen, wie sich die Steinmauer wieder schloß.
Die Sonne erleuchtete einen Stapel Kessel vor der Tür eines Ladens. Kessel – Alle Größen – Kupfer, Messing, Zinn, Silber – Selbst umrührend – Faltbar, hieß es auf einem Schild über ihren Köpfen.
»Jaow, du brauchst einen«, sagte Hagrid,»aber erst müssen wir dein Geld holen.«
Harry wünschte sich mindestens vier Augenpaare mehr. Er drehte den Kopf in alle Himmelsrichtungen, während sie die Straße entlang gingen, und versuchte, alles auf einmal zu sehen: die Läden, die Auslagen vor den Türen, die Menschen, die hier einkauften. Vor einer Apotheke stand eine rundliche Frau, und als sie vorbeigingen, sagte sie kopfschüttelnd:»Drachenleber, siebzehn Sickel die Unze, die müssen verrückt sein… «
Gedämpftes Eulengeschrei drang aus einem dunklen Laden. Auf einem Schild über dem Eingang stand: Eeylops Eulenkaujhaus – Waldkäuze, Zwergohreulen, Steinkäuze, Schleiereulen, Schneeulen. Einige Jungen in Harrys Alter drückten ihre Nasen gegen ein Schaufenster mit Besen. »Schau mal«, hörte Harry einen von ihnen sagen,»der neue Nimbus Zweitausend, der schnellste überhaupt -« Manche Läden verkauften nur Umhänge, andere Teleskope und merkwürdige silberne Instrumente, die Harry noch nie gesehen hatte. Es gab Schaufenster, die voll gestopft waren mit Fässern voller Fledermausmilzen und Aalaugen, wacklig gestapelten Zauberspruchfibeln, Pergamentrollen, Zaubertrankflaschen, Mondgloben…
»Gringotts«, sagte Hagrid.
Sie waren vor einem schneeweißen Haus angelangt, das hoch über die kleinen Läden hinausragte. Neben dem blank polierten Bronzetor, in einer scharlachroten und goldbestickten Uniform stand ein -
»Tja, das ist ein Kobold«, sagte Hagrid leise, als sie die steinernen Stufen zu ihm hochstiegen. Der Kobold war etwa einen Kopf kleiner als Harry. Er hatte ein dunkelhäutiges, kluges Gesicht, einen Spitzbart und, wie Harry auffiel, sehr lange Finger und große Füße. Mit einer Verbeugung wies er sie hinein. Wieder standen sie vor einer Doppeltür, einer silbernen diesmal, in die folgende Worte eingraviert waren: Fremder, komm du nur herein, Hab Acht jedoch und bläu's dir ein, Wer der Sünde Gier will dienen, Und will nehmen, möcht verdienen, Der wird voller Pein verlieren. Wenn du suchst in diesen Hallen Einen Schatz, dem du verfallen, Dieb, sei gewarnt und sage dir, Mehr als Gold harrt deiner hier.
»Wie ich gesagt hab, du mußt verrückt sein, wenn du den Laden knacken willst«, sagte Hagrid.
Ein Paar Kobolde verbeugte sich, als sie durch die silberne Tür in eine riesige Marmorhalle schnitten. Um die hundert Kobolde saßen auf hohen Schemeln hinter einem langen Schalter, kritzelten Zahlen in große Folianten, wogen auf Messingwaagen Münzen ab und prüften Edelsteine mit unter die Brauen geklemmten Uhrmacherlupen. Unzählige Türen führten in anschließende Räume, und andere Kobolde geleiteten Leute herein und hinaus. Hagrid und Harry traten vor den Schalter.
»Moin«, sagte Hagrid. »Wir sind hier, um ein wenig Geld aus Mr. Harry Potters Safe zu entnehmen.«
»Sie haben seinen Schlüssel, Sir?«, fragte der Kobold.
»Hab ihn hier irgendwo«, sagte Hagrid und begann seine Taschen zu entleeren und ihren Inhalt auf dem Schalter auszubreiten, wobei er eine Hand voll krümeliger Hundekuchen über das Kassenbuch des Kobolds verstreute. Dieser rümpfte die Nase. Harry sah dem Kobold zu ihrer Rechten dabei zu, wie er einen Haufen Rubine wog, die so groß waren wie Eierkohlen.
»Hab ihn«, sagte Hagrid endlich und hielt dem Kobold einen kleinen goldenen Schlüssel vor die Nase.
Der Kobold nahm ihn genau in Augenschein.
»Das scheint in Ordnung zu sein.«
»Und ich habe außerdem einen Brief von Professor Dumbledore«, sagte Hagrid, sich mit gewichtiger Miene in die Brust werfend. »Es geht um den Du-weißt-schon-was in Verlies siebenhundertundneunzehn.«
Der Kobold las den Brief sorgfältig durch.
»Sehr gut«, sagte er und gab ihn Hagrid zurück. »Ich werde veranlassen, daß man Sie in beide Verliese führt. Griphook!«
Auch Griphook war ein Kobold. Sobald Hagrid alle seine Hundekuchen in die Taschen zurückgestopft hatte, folgten er und Harry Griphook zu einer der Türen, die aus der Halle hinausführten.
»Was ist der Du-weißt-schon-was in Verlies siebenhundertundneunzehn«, fragte Harry.
»Darf ich nicht sagen«, meinte Hagrid geheimnistuerisch. »Streng geheim. Hat mit Hogwarts zu tun. Dumbledore vertraut mir. Lohnt sich nicht, meinen Job zu riskieren und es dir zu sagen.«
Griphook hielt die Tür für sie auf Harry, der noch mehr Marmor erwartet hatte, war überrascht. Sie waren nun in einem engen, steinernen Gang, den lodernde Fackeln erleuchteten. In den Boden waren schmale Bahngeleise eingelassen, die steil in die Tiefe führten. Griphook pfiff, und ein kleiner Karren kam auf den Schienen zu ihnen hochgezockelt. Sie kletterten hinauf und setzten sich – Hagrid mit einigen Schwierigkeiten – und schon ging es los.
Zuerst fuhren sie durch ein Gewirr sich überkreuzender Gänge. Harry versuchte sich den Weg zu merken, links, rechts, rechts, links, durch die Mitte, rechts, links – doch es war unmöglich. Der ratternde Karren schien zu wissen, wo es langging, denn es war nicht Griphook, der ihn steuerte.
Harrys Augen schmerzten in der kalten Luft, durch die sie sausten, doch er hielt sie weit geöffnet. Einmal meinte er am Ende eines Durchgangs einen Feuerstoß zu erkennen und wandte sich rasch um, denn vielleicht war es ein Drache – aber zu spät. Sie drangen weiter in die Tiefe vor und passierten einen unterirdischen See, bei dem riesige Stalaktiten und Stalagmiten von der Decke und aus dem Boden wucherten.
»Ich kann mir nie merken«, rief Harry durch das lärmende Rattern des Karrens Hagrid zu,»was der Unterschied zwischen Stalaktiten und Stalagmiten ist.«
»Stalagmiten haben ein ›m‹ in der Mitte«, sagte Hagrid. »Und jetzt keine Fragen mehr, mir ist schlecht.«
Er war ganz grün im Gesicht, und als die Karre endlich neben einer kleinen Tür in der Wand des unterirdischen Ganges hielt, stieg Hagrid aus und mußte sich gegen die Wand lehnen, um seine zitternden Knie zu beruhigen.
Griphook schloß die Tür auf Ein Schwall grünen Rauchs drang heraus, und als er sich verzogen hatte, stockte Harry der Atem. Im Innern lagen hügelweise Goldmünzen. Stapelweise Silbermünzen. Haufenweise kleine bronzene Knuts.
»Alles dein«, sagte Hagrid lächelnd.
Alles gehörte Harry – das war unglaublich. Die Dursleys konnten davon nichts gewußt haben, oder sie hätten es ihm schneller abgenommen, als er blinzeln konnte. Wie oft hatten sie sich darüber beschwert, wie viel es sie kostete, für Harry zu sorgen? Und die ganze Zeit über war ein kleines Vermögen, das ihm gehörte, tief unter Londons Straßen vergraben gewesen.
Hagrid half Harry dabei, einen Teil der Schätze in eine Tüte zu packen.
»Die goldenen sind Galleonen«, erklärte er. »Siebzehn Silbersickel sind eine Galleone und neunundzwanzig Knuts sind eine Sickel. Nichts einfacher als das. Gut, das sollte für ein paar Schuljahre reichen, wir bewahren den Rest für dich auf,« Er wandte sich Griphook zu. »Verlies siebenhundertundneunzehn jetzt, bitte, und können wir etwas langsamer fahren?«
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