Hier unten herrschte offenbar eine starke Strömung, denn das Schiff zitterte und bebte ununterbrochen und Mike konnte jetzt auch wieder hören, wie der Rumpf unter dem enormen Wasserdruck ächzte. Mehr als einmal schlug etwas mit einem harten, metallischen Geräusch gegen den Schiffsrumpf; die Laute hallten wie Glockenschläge im Schiff wider und ließen Mike erschauern. Und einmal schrammte etwas mit einem schrecklichen Geräusch unter dem Boden der NAUTI-LUS entlang: wie eine Messerklinge, die über Glas fuhr. Doch letzten Endes hielt das Schiff auch dieser weiteren Belastungsprobe stand und es gelang Trautman, die NAUTILUS tatsächlich nicht nur bis auf zwanzig, sondern allerhöchstens fünfzehn Meter an das abgebrochene Heck des Wracks heranzubringen, bevor das Unterseeboot wieder auf den Meeresboden herabsank. Für etliche Minuten waren sie so gut wie blind, denn ihr Manöver hatte den feinen Schlick vom Meeresboden aufsteigen lassen, der nun wie Nebel im Wasser hing und selbst das Licht der Scheinwerfer verschluckte. Aber in dem unwirklichen graubraunen Schleier, der sich vor dem Fenster ausgebreitet hatte, zuckten immer wieder schlanke, silberfarbene und weiße Schatten auf und die Haie kamen der NAUTILUS nun merklich näher als bisher. Etliche von ihnen strichen so dicht am Bullauge entlang, dass Mike direkt in ihre schwarzen, unergründlichen Augen sehen konnte. »Wie lange reicht ihr Sauerstoff noch?«, fragte Ben. Mike drehte sich nicht vom Fenster weg, als er Trautmans Stimme hörte. »Vielleicht zwanzig Minuten, wahrscheinlich weniger.«
»Und ... was tun wir nun?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht«, gestand Trautman.
»Aber wir ... wir können doch nicht einfach dastehen
und nichts tun!«, flüsterte Serena.
»Das sagt ja auch keiner«, erwiderte Trautman. »Aber
wir helfen Singh und deinem Vater nicht, wenn wir einfach blindlings hinausstürmen und selbst dabei umkommen. Noch ist etwas Zeit. Ich bin sicher, dass uns etwas einfällt, wenn wir einen kühlen Kopf bewahren und jetzt nicht in Panik geraten.« »Einen kühlen Kopf bewahren?!« Serenas Stimme kippte fast über. »Sie werden sterben ! Sie haben die Wahl, zu ersticken oder von diesen Ungeheuern getötet zu werden!« »Vielleicht könnten wir einen Art Schutz bauen«, schlug Juan vor. »In unseren Laderäumen liegt genug Material. Es sind nur zehn oder fünfzehn Meter. Wenn wir so eine Art Tunnel errichten, durch den wir zu dem Schiff kommen ...« »Eine gute Idee«, sagte Trautman, »aber dazu fehlt uns die Zeit.« Juan erwiderte irgendetwas, was Mike schon gar nicht mehr hörte. Serenas letzte Worte hallten hinter seiner Stirn wider. Sie werden sterben! Er konnte es nicht zulassen. Astaroth war gestorben, weil er nichts getan hatte, um ihm zu helfen, und nun trennten Singh nur mehr fünfzehn oder zwanzig Minuten vom sicheren Tod - wieder würde er dabeistehen und tatenlos zusehen. Nein! Er hatte einmal versagt, als einer seiner Freunde in höchster Not gewesen war, und das würde sich nicht wiederholen! Und wenn es sein eigenes Leben kostete! Während Serena, Juan, Ben und Trautman weiter miteinander diskutierten, trat er langsam vom Fenster zurück, drehte sich herum und verließ den Salon, ohne dass einer der anderen es auch nur merkte.
Mike überprüfte pedantisch den Sitz seines Unterwasseranzuges, tastete mit den Fingern ein letztes Mal sichernd über die schweren Messingbolzen, die den Helm verriegelten, und nickte dann zufrieden. In einer Wassertiefe wie dieser konnte er sich keine Unachtsamkeiten erlauben. Ein winziger Riss, ein noch so
kleiner Spalt -und das Wasser würde mit der Gewalt eines Schwerthiebes in seinen Anzug hineinschießen und ihn auf der Stelle töten. Unter dem Gewicht der drei Sauerstoffflaschen wankend, streckte er den Arm aus und betätigte den Schalter, der die Pumpen in Gang setzte. Die innere Tür der Schleuse hatte er bereits verriegelt und er hatte auch dafür gesorgt, dass niemand sie von außen öffnen konnte; zumindest nicht schnell genug, um ihn an seinem Vorhaben zu hindern. Das Wasser schoss sprudelnd in die Kammer. Um Mikes Füße bildeten sich kleine Wirbel, die rasch höher stiegen, seine Waden, die Knie und dann die Hüften erreichten und binnen weniger als einer Minute war die Kammer bis unter die Decke mit eiskaltem Wasser gefüllt. Mike streckte ein zweites Mal die Hand aus, zögerte noch einen letztenHerzschlag lang und drückte dann entschlossen auf den Öffnungsknopf. Das äußere Schleusentor glitt auf und Mike blinzelte geblendet in das grelle Licht der Scheinwerfer, die den Meeresboden vor der NAUTILUS mehr als taghell erleuchteten. Sein Herz begann zu klopfen, als er sah, wie nahe die Haie waren. Eine Sekunde lang fragte er sich allen Ernstes, ob er den Verstand verloren hatte. Auch nur einen Schritt dort hinaus zu tun war glatter Selbstmord. Trotzdem tat er es. Der Meeresgrund war an dieser Stelle so weich, dass bei jedem Schritt unter seinen Füßen eine braungraue Sandwolke emporwirbelte, die fast bis zu seiner Brust stieg. Er hatte das Gefühl, durch zähen Sumpf zu laufen, der sich an seine Beine klammern wollte, und das Gewicht der Sauerstoffflaschen drückte ihn unbarmherzig nach vorne. Er machte drei, vier mühsame Schritte, bei denen er jedes Mal mehr Sand hochwirbelte, und es kam ihm vor, als entferne er sich von dem Wrack, statt ihm näher zu kommen.
Wie durch ein Wunder hatten die Haie bisher noch keinerlei Notiz von ihm genommen. Sie umkreisten weiterhin das Wrack. Viele von ihnen kamen ihm dabei so nahe, dass sie mit Flossen oder Rücken über das rostig gewordene Metall streiften. Und tatsächlich versuchten nicht wenige der grauen Killer ins Innere des Schiffes vorzudringen. Allerdings war es so, wie er vermutet hatte: Nur die kleinen, relativ ungefährlichen Tiere waren in der Lage, in das Schiff hineinzuschwimmen. Noch waren Singh und Argos dort drinnen also in Sicherheit. Mike schleppte sich mühsam weiter. Er begann seine Schritte zu zählen und er hatte noch nicht die Hälfte der Entfernung zum Wrack zurückgelegt, als das geschah, was er insgeheim schon in der ersten Sekunde befürchtet hatte: Die Haie entdeckten ihn. Ein kleineres, kaum einen halben Meter langes Tier schoss plötzlich auf ihn los und schwenkte erst so dicht vor ihm zur Seite, dass Mike bereits alle Muskeln anspannte, um den erwarteten Anprall abzufangen. Dem ersten Tier folgte ein zweites, größeres, dann ein drittes und viertes; und plötzlich war auch Mike von einer wirbelnden Schar tanzender, das Wasser peitschender Haie unigeben -doch zu seinem großen Erstaunen griff ihn keines der Tiere direkt an. Mike versuchte den lebendigen Schutzwall, der sich rings um ihn herum aufgetürmt hatte, mit Blicken zu durchdringen. Es gelang ihm. Er sah das Schimmern von Licht auf Metall und setzte seinen Weg in diese Richtung fort. Schließlich hatte er es geschafft: Unter seinen tastenden Händen war plötzlich Metall. Die Haifische bedrängten ihn immer noch, aber er hatte das Wrack erreicht und dieser Erfolg gab ihm noch einmal neue Kraft. Er tastete sich weiter, versuchte die Haie davonzuscheuchen, und sah schließlich einen Einstieg vor sich.
Mit dem schweren Taucheranzug und der zusätzlichen Last der beiden Flaschen kostete es Mike all seine Kraft, nach dem Rand der Luke zu greifen und sich hinaufzuziehen. Als er es fast geschafft hatte, kam ihm ein grauer Schemen aus dem Schiff entgegengeschossen, traf seine Schulter und warf ihn zurück. Mike stürzte nach hinten, fiel in den Sand und blieb einen Moment hilflos wie eine auf den Rücken gefallene Schildkröte liegen, ehe es ihm irgendwie gelang, sich herumzuwälzen und auf Hände und Knie hochzustemmen. Er griff ein zweites Mal nach dem Rand der Luke, zog sich mit zusammengebissenen Zähnen und unter Aufbietung aller seiner Kräfte daran empor -und wieder schoss ein Hai heran und rammte ihm die stumpfe Schnauze in die Seite. Diesmal war es einer der großen, weißen. Ein mehr als vier Meter langes Exemplar, dessen Aufprall ihn wie ein Hammerschlag traf. Mike verlor seinen Halt, schrie gellend auf und überschlug sich zweimal, bevor er erneut, aber sehr viel härter, auf den Meeresboden krachte. Alles drehte sich um ihn. Als er wieder klar sehen konnte, bot sich ihm ein ganz und gar unglaubliches Bild: Er sah eine Gruppe von vier oder fünf ganz besonders großen Haien direkt auf sich zu schießen. Angeführt wurden sie von einem wahrhaft gigantischen Exemplar, einem Tier von der Größe eines kleinen Schiffes, das Tonnen wiegen musste, sich aber pfeilschnell durch das Wasser bewegte. Das aber war es nicht, was Mike schier an seinem Ver
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