Plötzlich erhob sich Ged im Bug des Bootes und sprach laut. Der magische Wind ließ nach. Die Weitblick fuhr langsamer und lag schließlich, ohne sich vorwärts zu bewegen, auf den riesigen Wellen, die sie hoben und wieder fallen ließen wie einen kleinen Holzspan und hin und her schaukelten. Obgleich der Wind der Welt mächtig aus dem Norden blies, hing das braune Segel schlaff am Mast.
Ged sagte: »Streich das Segel!«, und Vetsch gehorchte sofort. Ged band die Ruder los, hakte sie ein und begann zu rudern.
Vetsch, der, so weit er blicken konnte, nichts als Wellen sah, verstand nicht, warum sie jetzt ruderten, aber er wartete, und bald merkte er, daß der Wind der Welt schwächer wurde und die Wellen immer kleiner. Das Boot hob und senkte sich immer weniger, bis es schließlich unter Geds kräftigen Ruderschlägen übers Wasser dahingetrieben wurde, das so still war wie das Wasser einer Bucht. Und obwohl Vetsch nicht sehen konnte, was Ged sah, der zwischen dem Rudern immer wieder den Kopf wandte und nach dem Ausschau hielt, was vor ihm lag — obwohl Vetsch die dunklen Hügel unter den unbeweglichen Sternen nicht wahrnahm, trotzdem sahen seine Magieraugen in den Vertiefungen der Wellen um das Boot herum eine Bewölkung aufsteigen, die wie riesige Schwaden immer höher wallte und sich immer langsamer bewegte, als sei sie mit Sand beschwert.
Wenn dies Illusion war, so war sie unglaublich mächtig, denn sie spiegelte hier, inmitten der hohen See, Land vor. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen, sammelte sich und sprach eine Enthüllungsformel. Er paßte zwischen jeder langsam gesprochenen Silbe scharf auf, um jede Erschütterung, jeden Riß in dieser Illusion wahrzunehmen, die ihm hier, über dem tiefen Abgrund, seichtes Wasser und ein Austrocknen des Meeres vorspiegelte. Aber nichts änderte sich. Vielleicht hatten seine Zauberworte, die für seine eigenen Augen bestimmt waren und an der Magie ringsumher nichts ändern wollten, keine Kraft hier. Vielleicht war es auch keine Illusion, und sie hatten das Ende der Welt erreicht.
Ohne Pause ruderte Ged weiter. Ab und zu über seine Schulter blikkend, steuerte er das Boot durch Untiefen, Sandbänke und Kanäle, die nur er sehen konnte. Unter ihm lag die bodenlose Tiefe des Meeres, doch sein Boot fuhr auf eine versteckte Sandbank und saß fest. Ged zog die Ruder ein, die in den Dollen ratterten, und das Geräusch war erschreckend in der Totenstille. Alle Laute, die Stimme des Windes, des Wassers, des Holzes, des Segels, alles war verstummt, verschluckt von der riesigen, tiefen Stille, die ewiglich währen konnte. Das Boot lag regungslos. Kein Windhauch war zu spüren. Das Meer war Sand geworden, der beschattet und unbeweglich dalag. Nichts rührte sich am Himmel, nichts auf diesem trockenen, unwirklichen Boden, der sich in endlose Fernen um das Boot herum erstreckte und sich in der Finsternis verlor.
Ged ergriff seinen Stab und stieg leichtfüßig über die Bordwand. Vetsch rechnete damit, daß er hinfallen und im Wasser versinken würde, denn gewißlich mußte das Meer unter diesem trockenen, trüben Schleier liegen, der Wasser, Himmel und Licht verbarg. Aber das Meer war verschwunden. Ged entfernte sich vom Boot. Der dunkle Sand knirschte leise und zeigte seine Fußspuren. Sein Stab begann zu leuchten, nicht mit einem Werlicht, sondern mit einem hellen, weißen Glanz, der bald so durchdringend wurde, daß seine Finger sich röteten, wo er das leuchtende Holz umfaßte. Er entfernte sich vom Boot, aber er schlug keine Richtung ein. Hier gab es weder Norden noch Süden, noch Westen, noch Osten, nur ein Näherkommen und ein Fortgehen.
Das Licht, das er trug, kam Vetsch, der alles mit Bangen beobachtete, wie ein großer Stern vor, der sich langsam durch die Dunkelheit fortbewegte. Und die Dunkelheit um Ged verdichtete, verdüsterte und vermehrte sich. Auch Ged, der immer geradeaus vor sich hin blickte, nahm das wahr. Und nach einer Weile sah er, am äußersten Rande des Lichtkreises, einen Schatten, der sich auf ihn zubewegte.
Zuerst sah er formlos aus, aber als er näher kam, nahm er die Gestalt eines Mannes an. Alt schien er, grau und grimmig blickte er, aber als Ged seinen Vater, den Schmied, in der Gestalt zu erkennen glaubte, änderte sie sich und war nicht mehr alt, sondern jung. Es war Jasper, mit seinem kecken, hübschen Gesicht, der ihm, gehüllt in seinen grauen Umhang mit der Silberbrosche, hochmütig entgegenschritt. Haßerfüllt blickte er auf Ged über die zwischen ihnen liegende Dunkelheit hinweg. Ged blieb nicht stehen. Er verlangsamte seine Schritte etwas und hob seinen Stab etwas höher. Dieser glänzte heller, und in seinem Licht änderte sich die Gestalt und nahm Peckvarrys Form an. Doch Peckvarrys Gesicht war aufgeschwemmt und weiß wie das Gesicht eines Ertrunkenen, und er streckte seine Hand nach Ged aus, als wolle er ihn zu sich rufen. Ged ging unentwegt weiter, obwohl ihn nur noch wenige Schritte von dem Wesen vor ihm trennten. Jetzt änderte es sich völlig; es breitete sich aus und öffnete riesige, dünne Flügel, es züngelte, schwoll an und schrumpfte wieder zusammen. Einen Augenblick lang sah Ged Skihors weißes Gesicht, dann ein Paar starre, umwölkte Augen und plötzlich ein grauenvolles Gesicht, das er nicht kannte, Mensch oder Ungeheuer, mit beweglichen Lippen und Augen wie tiefe Gruben, die in schwarze Leere mündeten.
Als er dies sah, hob Ged seinen Stab in die Höhe, und sein Glanz wurde so stark, sein Licht leuchtete so hell und weiß, daß er die Dunkelheit selbst, die vor ihm stand, diese uralte, unergründliche Bosheit, in seinen Bann zwang und quälte. In diesem Licht verlor der Schatten jegliche Gestalt. Er zog sich zusammen, wurde noch schwärzer und kroch auf vier kurzen Tatzen auf Ged zu über den Sand. Aber noch immer bewegte er sich und hob sein blindes, unförmiges Gesicht ohne Lippen, Ohren und Augen zu ihm empor. Als sie aufeinandertrafen, wurde es pechschwarz unter dem weißen magischen Licht, der Schatten zog sich hoch und stand aufrecht. In der Totenstille hielten sie an und standen sich gegenüber, Mensch und Schatten.
Laut und klar, die Totenstille unterbrechend, sprach Ged den Namen des Schattens, und im gleichen Augenblick sprach der Schatten ohne Lippen und Zunge das gleiche Wort: »Ged.« Und die beiden Stimmen waren eine Stimme.
Ged streckte seine Hände aus, ließ seinen Stab fallen und ergriff den Schatten, sein schwarzes Selbst, das sich nach ihm ausstreckte. Hell und Dunkel trafen zusammen, verbanden sich und wurden eins.
Vetsch war weit zurückgeblieben, und im dunklen Dämmerlicht über den Sand blickend, sah er mit Entsetzen, wie Ged überwältigt wurde, und wie der helle Schein, der ihn umgeben hatte, immer schwächer wurde. Von Wut und Verzweiflung gepackt, sprang er aus dem Boot auf den Sand hinaus, um seinem Freund zu helfen oder mit ihm zu sterben. Er rannte auf den letzten verglimmenden Lichtschein zu, in der trostlosen Dämmerung des trockenen Landes. Aber noch während er lief, spürte er, wie er im Sand unter seinen Füßen versank, und er begann schwerfällig, wie in Schlick oder Schlamm, zu waten — bis mit donnerndem Brausen und herrlichem Tageslicht, mit bitterer Winterskälte und herbem Salzgeschmack die Welt wiederhergestellt wurde und er plötzlich im nassen, kalten, lebendigen Wasser des Meeres zappelte.
Nahebei schaukelte das Boot auf den grauen Wellen, sonst konnte Vetsch nichts auf dem Meer erblicken, denn die Schaumkronen der Wellen schlugen ihm ins Gesicht und nahmen ihm die Sicht. Er war nicht der beste Schwimmer und mühte sich ab, zum Boot zu gelangen, und zog sich langsam hoch. Hustend hockte er im Boot und schaute verzweifelt um sich, während er das aus seinen Haaren strömende Wasser aus dem Gesicht strich. Er wußte nicht, in welche Richtung er blicken sollte. Schließlich sah er, weit entfernt, etwas Dunkles auf dem Wasser treiben. Er ergriff flugs die Ruder und näherte sich mit mächtigen Schlägen der Stelle, wo sein Freund im Wasser trieb, und seinen Arm ergreifend, zog er ihn an Bord.
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