Keiner sprach, einige grinsten, andere blickten finster.
Der Dorfälteste antwortete: »Das Meer.«
»Weiter draußen liegt kein Land mehr?«
»Dies hier ist Letztland. Es gibt kein anderes Land weiter draußen, nur Wasser, von hier bis ans Ende der Welt.«
»Das sind weise Männer, Vater«, sagte ein junger Mann. »Das sind Seefahrer, Reisende. Vielleicht wissen die von einem Land, das wir nicht kennen.«
»Östlich von hier gibt es kein Land«, beharrte der Alte, blickte Ged durchdringend an und sprach kein Wort mehr mit ihm.
Die Nacht verbrachten die Freunde in der rauchigen Wärme der Hütte. Vor Tagesanbruch weckte Ged seinen Freund und flüsterte: »Estarriol, wach auf! Wir können hier nicht bleiben, wir müssen fort.«
»Warum so früh?« fragte Vetsch schlaftrunken.
»Nicht früh — spät. Ich bin zu langsam gefolgt. Er hat einen Weg gefunden, auf dem er mir entschlüpfen und mich in den Untergang treiben kann. Er darf mir nicht entschlüpfen, denn ich muß ihm folgen, wie weit er auch gehen mag. Wenn ich ihn verliere, dann bin ich verloren.«
»Wohin folgen wir ihm?«
»Nach Osten. Komm! Ich habe die Wasserflaschen gefüllt.«
Und so verließen sie die Hütte, während noch alles schlief. Nur ein kleines Kind schrie irgendwo in der Dunkelheit einer Hütte und verstummte dann wieder. Beim schwachen Licht der Sterne suchten sie den Pfad, der hinunter zur Bachmündung führte, und banden das Boot Weitblick von dem Felsen los, an dem es angebunden war, und gemeinsam schoben sie es ins schwarze Wasser. Gen Osten segelnd, gelangten sie hinter Astowell auf die hohe See, am ersten Tag des Brachmondes, noch bevor die Sonne aufging.
Den ganzen Tag lang war der Himmel über ihnen klar. Der Wind der Welt blies kalt und böig aus dem Nordosten, doch Ged hatte einen magischen Wind gewirkt. Es war das erste Mal, seit er die Insel der Hände verlassen hatte, daß er eine magische Handlung vollbrachte. Das Schiff erzitterte vom Anprall der mächtigen, rauschenden, sonnenhellen Wogen, aber es hielt sich so tapfer, wie sein Besitzer prophezeit hatte, und es folgte dem Zauberwind so willig wie ein zauberdurchwirktes Schiff von Rok.
Ged redete kein Wort an diesem Morgen, außer um die Macht des Windes zu erneuern und die Leinwand des Segels mit Zauberworten zu verstärken. Vetsch versuchte, im Vorderteil des Bootes zu schlafen, was ihm nicht so recht gelang, denn er spürte die Unruhe seines Freundes. Um die Mittagszeit aßen sie. Ged teilte nur wenig aus, und es war klar, was dies bedeutete, doch beide kauten an ihrem kleinen Stück gesalzenem Fisch und an ihrem Weizenküchlein, und keiner sagte ein Wort.
Den ganzen Nachmittag lang bahnten sie sich ihren Weg nach Osten, ohne sich zurückzuwenden, ohne die Geschwindigkeit zu verringern. Einmal nur unterbrach Ged das Schweigen und sagte: »Gehörst du zu denen, die glauben, daß es kein Land außerhalb der Außenbereiche gibt, oder glaubst du, daß es andere Inselbereiche oder riesige, unerforschte Länder auf der anderen Seite der Erde gibt?«
»Jetzt im Augenblick«, sagte Vetsch, »gehöre ich zu denen, die glauben, daß die Welt ein Teller ist und daß der, der so weit hinausfährt, über den Rand hinunterfällt.«
Ged lächelte nicht, sein Lachen war ihm vergangen. »Wer weiß, was man dort draußen antrifft. Wir Inselbewohner finden es bestimmt nie heraus, denn wir bleiben immer in der Nähe unserer Küsten und Ufer.«
»Mancher zog aus, um es zu erforschen, und keiner kehrte zurück. Und noch nie kam ein Schiff zu uns von unbekannten Landen.«
Ged antwortete nicht.
Die ganze Nacht und den ganzen Tag segelten sie, getrieben von dem mächtigen Zauberwind, über die Wogen des Meeres immer weiter nach Osten. Ged hielt Ausschau von der Abenddämmerung bis zum Morgengrauen, denn in der Dunkelheit wuchs die Kraft, die ihn zog oder trieb. Unentwegt starrte er geradeaus, obwohl er in der mondlosen Nacht nicht viel mehr als die blinden Bugaugen sehen konnte. Bei Tagesanbruch war sein Gesicht grau vor Erschöpfung, und er war so klamm und verkrampft von der Kälte, daß er sich kaum im Boot ausstrecken konnte.
Er sprach flüsternd: »Halte den magischen Wind aus dem Westen aufrecht, Estarriol!« und schlief sofort ein.
Kein Sonnenaufgang war zu sehen. Aus dem Nordosten schlug ein heftiger Regen gegen das Boot, aber es war kein Sturm, sondern nur der übliche Regen und Wind des Winters. Bald war alles im Boot durchnäßt, trotz der geteerten Leinwand, die sie als Schutz gekauft hatten. Vetsch hatte bald das Gefühl, als sei er bis auf die Knochen naß, und Ged fröstelte im Schlaf. Aus Mitleid mit seinem Freund, und vielleicht auch ein bißchen aus Mitleid mit sich selbst, versuchte Vetsch, den unerbittlichen, unbarmherzigen Wind, der den Regen gegen sie trieb, mit Zauberworten etwas abzubiegen. Es gelang ihm nicht. Obwohl er keine Mühe hatte, den von Ged ursprünglich aufgebrachten magischen Wind in dem Segel zu halten, so war seine eigene Zaubermacht, so weit vom Land entfernt, wirkungslos. Der Wind der hohen See gehorchte seiner Stimme nicht.
Mit dieser Erkenntnis schlich sich Furcht in sein Herz. Vetsch fragte sich, wieviel ihnen von ihrer Macht verblieben war, hier draußen, so weit entfernt vom Land, dem eigentlichen Wohnort des Menschen.
Während der Nacht übernahm Ged wieder die Wache und hielt das Boot unentwegt auf östlichem Kurs. Bei Tagesanbruch ließ der Wind der Welt etwas nach, ab und zu brach sogar die Sonne durch. Aber die Wellen türmten sich so hoch vor ihnen, daß die Weitblick sich schräg hochbewegen mußte, oben einen Augenblick fast unbeweglich auf dem Wellenkamm ritt, dann plötzlich hinunterschoß und das gleiche bei der nächsten und übernächsten Welle endlos wiederholte.
Am Abend des gleichen Tages sprach Vetsch nach langem Schweigen: »Mein Freund«, sagte er, »einmal hast du erwähnt, daß wir schließlich Land sehen werden. Es würde mir nie einfallen, deine Vision in Frage zu stellen, aber bedenke dies: das Unbekannte, dem wir folgen, kann dir einen Streich spielen, es kann dir eine Falle stellen, es kann dich hinaus aufs Meer locken, weiter, als es Menschen vergönnt ist zu gehen. Unsere Macht kann sich hier draußen ändern, auf fremden Meeren wird sie geschwächt. Wie du weißt, ermüdet ein Schatten nicht, er verhungert auch nicht, und er kann auch nicht ertrinken.«
Sie saßen nebeneinander auf der Ruderbank, doch Ged blickte ihn an, als wäre er weit weg, als läge ein Abgrund zwischen ihnen. Seine Augen waren umwölkt, und es dauerte lange, bis er antwortete.
Schließlich sagte er: »Estarriol, wir sind nahe.«
Als er dies hörte, wußte sein Freund, daß es die Wahrheit war. Angst erfaßte ihn. Aber er legte seine Hand auf Geds Schulter und sagte nur: »Nun, das ist gut, das ist gut.«
Als die Nacht kam, wachte Ged wieder, denn er konnte nicht schlafen. Auch am dritten Tag weigerte er sich zu schlafen. Noch immer eilten sie pfeilschnell unter dem stetigen starken Wind übers Meer, und Vetsch erstaunte ob der Kraft, die Ged besitzen mußte, um diesen mächtigen magischen Wind pausenlos aufrechtzuerhalten. Er fühlte, wie seine eigene Macht schwächer wurde und sich änderte. Und immer weiter flogen sie dahin, bis Vetsch spürte, daß Geds Ahnung nahe ihrer Erfüllung war. Sie kamen in Bereiche jenseits der Quellen des Meeres, jenseits der Tore des Tages. Ged saß vorne im Boot und starrte wie immer geradeaus. Aber er sah jetzt das Meer nicht so, wie Vetsch es sah — als eine Einöde wild bewegten Wassers, das den Rand des Himmels berührte. Vor Geds Augen lag ein dunkles Etwas, das sich vor den grauen Himmel, vor das graue Meer lagerte, das sich wie ein Schleier auf die Welt legte, und der Schleier wurde immer dichter. All dies sah Vetsch nicht, nur auf dem Gesicht seines Freundes nahm er ganz undeutlich etwas von dieser Dunkelheit wahr. Weiter und immer weiter fuhren sie, und es war, als gingen sie, obwohl sie in einem Boot saßen und von einem Wind getrieben wurden, getrennte Wege. Vetsch eilte nach Osten über das Weltmeer, während Ged allein ein Reich betrat, in dem es weder Ost noch West gibt, weder Auf- noch Untergang von Sternen und Sonnen.
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