Ich hatte nie so gedacht, bevor ich zum Familienoberhaupt geworden war.
Ich sah hinüber zu Molly und Ute, die schnatterten und kicherten wie die besten Freundinnen, die sie waren, und es war ein netter Zug von Normalität in einer ernsthaft verrückt gewordenen Welt. Es hob meine Lebensgeister ein wenig, zu sehen, dass solche kleinen Freuden noch möglich waren. Aber ich war immer noch nicht sicher, was ich von Utes Weg der Verdammnis halten sollte. Der Name weckte wirklich nicht gerade Vertrauen. Aber wenn er uns direkt in Trumans Bunker führte - nun, ein kräftiger Erstschlag konnte immer noch den Turm ausschalten und dem Ganzen ein Ende machen. Keine Nester mehr, keine Türme mehr, keine Abscheulichen mehr.
Außer dem einen, der noch in Molly lebte. Sich immer noch in ihren Körper, ihren Verstand und ihre Seele fraß. Was war gut daran, die Welt zu retten, wenn ich die Frau nicht retten konnte, die ich liebte? Wenn es Molly nicht mehr gab, dann würde ich nur noch meine Familie haben, und ein Leben voller kalter Pflichten und Verantwortlichkeiten. Es musste einen Weg geben, sie zu retten. Es musste einfach. Weil ich in einer Welt, in der es Molly nicht gab, nicht leben wollte.
Sie sah sich um, sah, wie ich sie ansah und lächelte strahlend. Ich lächelte zurück. Sie umarmte Ute schnell und kam zu mir. Sie umarmte mich und ich hielt sie fest. Ich wollte sie nie wieder gehen lassen, aber ich tat es doch. Ich konnte nicht riskieren, dass sie erfuhr, was ich dachte.
»Du sahst so aus, als könntest du einen großen Knuddler brauchen«, sagte Molly rundheraus. »Zum Teufel, beinahe jeder hier sieht so aus. Aber so eine bin ich nicht. Ich habe gerade mit Ute gesprochen. Sie sagt, sie kann einen Eingang zum Weg der Verdammnis beschwören, sobald du so weit bist, aber … Eddie, sie ist erschöpft. Ich meine, sie ist total von der Rolle. Da ist nur noch Mut und Entschlossenheit, die sie aufrecht halten. Ich weiß nicht, wo sie war oder mit wem sie verhandeln musste, um die Geheimnisse des Weges in die Finger zu kriegen, aber sie hat einen hohen Preis gezahlt.«
»Dann müssen wir so bald wie möglich los«, sagte ich. »Molly, Ute muss mit uns kommen. Schafft sie das?«
»Sie sagt ja«, meinte Molly und zuckte mit den Achseln. »Ich kann's ihr nicht verbieten. Und du würdest es auch nicht, oder, Eddie?«
»Wir brauchen sie«, sagte ich bestimmt. »Die Welt braucht sie.«
»Lustig«, sagte Molly. »Die hat Ute noch nie gebraucht.« Sie sah mich nachdenklich an. »Was ist mit mir? Brauchst du mich dabei? Kannst du mir so nah an einem Turm vertrauen, wenn man meinen Zustand bedenkt?«
Ich lächelte sie an. »Ich brauche dich immer, Molly. Glaubst du wirklich, ich würde ohne dich irgendwohin gehen?«
»Du warst schon immer ein großes Weichei, Eddie Drood.« Und sie küsste mich leidenschaftlich, hier vor allen anderen. Einige klatschten, ein paar jubelten. Molly ließ mich schließlich los und lächelte den anderen süß zu.
Glücklicherweise kam Mr. Stich in diesem Moment herein und schlenderte so gelassen in den Lageraum wie eine tickende Bombe, der Seneschall direkt neben ihm. Der Seneschall hatte eine Waffe in einer Hand und seinen Blick starr auf Mr. Stich gerichtet, der höflich vorgab, das nicht zu bemerken. Nach seinen vielen Ausflügen aufs Schlachtfeld sah der Seneschall zerschlagen und verletzt aus. Er war hier und da dick verpflastert, aber sein Rücken war immer noch durchgedrückt und der Kopf hoch erhoben. Für ihn war Schwäche immer etwas, das nur bei anderen vorkam. Und wenn man fair war, sah er immer noch so aus, als könne er mit einer ganzen Armee im Alleingang fertig werden und die Überlebenden heulend zu ihren Mamis schicken. Mr. Stich, das musste man zugestehen, sah aus … wie er immer aussah. Ruhig, kalt, und vollkommen unerschüttert. Nicht ein Blutfleck war an ihm zu sehen, oder der kleinste Riss an seiner viktorianischen Abendkleidung. Selbst sein Zylinder glänzte auf eine elegante und selbstgefällige Art.
Ich wollte etwas danach werfen, einfach so aus Prinzip.
Stattdessen winkte ich beide zu mir herüber und erklärte ihnen die Situation. Mr. Stich runzelte leicht die Stirn, als ich den Weg der Verdammnis erwähnte, als würde der Name in ihm eine Saite zum Klingen bringen, aber er hatte nichts zu sagen. Der Seneschall allerdings war sofort Feuer und Flamme. Bei dem Gedanken daran, noch mehr Stress machen zu können, leuchteten seine Augen auf.
»Alles für die Familie!«, sagte er. »Und ich muss sagen, die Familie macht wirklich viel mehr Spaß, seit du wieder zurück bist, Junge.«
Er ist vielleicht ein Psychopath, dachte ich. Aber er ist unser Psychopath.
»Diese neue Mission«, meinte Mr. Stich. »Werde ich noch mehr Leute töten können?«
»Das ist beinahe sicher«, sagte ich.
»Und gibt es eine Chance, dass ich auch getötet werde?«
»Das ist auch beinahe sicher.«
»Umso besser«, meinte Mr. Stich. »Ich bin dabei.«
»Da kommt etwas rein!«
Der Ruf hallte durch den ganzen Lärm im Lageraum und wir sahen uns alle sofort nach dem um, der ihn ausgestoßen hatte. Einer vom Kommunikationsstab stand über seiner Arbeitskonsole und wies mit zitterndem Finger darauf. Sein Vorgesetzter war sofort an seiner Seite, schubste ihn wieder in seinen Stuhl, um dann über seine Schulter auf das zu sehen, was da über den Bildschirm zuckte. Der Rest des Kommunikationsstabs kontrollierte panisch die eigenen Computer, Kristallkugeln und Wahrsagebecken und alle redeten fieberhaft aufeinander ein. Ein heulender Alarm ging plötzlich los und die Matriarchin befahl, ihn sofort abzustellen. »Ich kann mich selbst ja nicht einmal mehr denken hören«, sagte sie scharf. »Ah ja, das ist besser. Also, was ist hier los? Redet mit mir, Leute! Was ist es denn genau, was hier reinkommt?«
»Wird das Herrenhaus angegriffen?«
»Sieht so aus«, sagte der Kommunikationsoffizier. Es war Howard Drood, effizient wie immer. Er war aus dem Einsatzraum an die Spitze des Lageraums versetzt worden, um die Angriffe auf die Nester zu koordinieren. »Etwas versucht, sich in unsere Realität zu drängen, genau hier, durch alle Schutzschilde des Herrenhauses hindurch. Was ich für unmöglich gehalten hätte, wenn es nicht gerade jemand versuchte.«
»Könnte es Truman sein, oder die Eindringlinge?«, fragte ich. »Die einen Präventivschlag gegen uns loslassen?«
»Ja. Nein. Vielleicht. Ich weiß es nicht! Die Bildschirme können nichts mit dem anfangen, was da passiert.« Howards sonst schon finsterer Gesichtsausdruck verstärkte sich noch, als er die Monitore studierte. »Ich habe solche Daten noch nie gesehen. Was auch immer das ist, es kommt wie ein geölter Blitz auf uns zu. Es hat sich schon durch die äußeren Verteidigungen geboxt und es kommt direkt auf uns zu.«
Ich ging im Geist schnell die Attacken durch, die es bereits aufs Herrenhaus gegeben hatte, als das Herz noch hier gelebt hatte. Wir hatten nie wirklich herausgefunden, was dahintersteckte. Hatten die Unbekannten sich diesen Moment ausgesucht, um wieder anzugreifen, wenn wir am schwächsten und verletztlichsten waren?
»Seltsam, sag was«, meinte ich. »Weißt du, wer oder was das ist?«
»Nein, Eddie.« Seine Stimme in meinem Kopf war überraschend angespannt. »Es kommt aus einer Richtung, die ich nicht orten kann. Es kommt von außerhalb allem, was ich als Realität bezeichnen würde. Es ist nicht sehr groß, aber es scheint sehr entschlossen. Und nein, Eddie, ich kann es nicht aufhalten.«
Giles Todesjäger hatte sein Langschwert gezogen und sah sich nach einem Feind um. Um nicht zurückzustehen, zog der Seneschall mit jeder Hand eine Pistole.
»Steckt das weg!«, bellte die Matriarchin sofort. »In meinem Lageraum trägt keiner eine Waffe! Wer weiß, was ihr mit dem Equipment anstellt.«
Читать дальше