Perry Fleming bewegte die Lippen, und Sophie hörte sie flüstern: »Oh nein... nicht jetzt... nicht hier.«
»Perry …?«
Die Frau drehte sich wieder zu Sophie um. In ihren Augen lag schieres Entsetzen und ihr für gewöhnlich akzentfreies Englisch hatte jetzt einen leicht fremdländischen Einschlag. »Bleib hier! Egal was passiert, bleib hier und halt dich unten.«
Sophie wollte gerade etwas sagen, als eine Druckwelle sie erreichte. Sie schluckte, um ihre Ohren wieder freizubekommen, – und dann flog die Tür der Buchhandlung auf, und einer der kräftigen Männer, die Sophie vorher hatte hineingehen sehen, wurde auf die Straße geschleudert. Sein Hut und die Sonnenbrille waren weg und Sophie sah kurz Haut, die wie die eines Toten aussah, und Augen wie schwarzer Marmor. Einen Augenblick lang kauerte der Mann reglos mitten auf der Straße, dann hob er die Hand, um sein Gesicht vor dem Sonnenlicht zu schützen.
Sophie spürte, wie sich in ihrem Magen ein kalter, harter Klumpen bildete.
Die Haut an der Hand des Mannes kam in Bewegung. Sie rutschte langsam wie zäher Brei in seinen Ärmel. Es war, als würden seine Finger schmelzen. Ein Klecks, der aussah wie grauer Schlamm, platschte auf den Boden.
»Golems«, keuchte Perry Fleming. »Mein Gott, er hat Golems erschaffen.«
»Gollums?«, fragte Sophie. Ihr Mund war wie ausgetrocknet und ihre Zunge fühlte sich plötzlich entschieden zu groß an. »Wie der Gollum aus ›Herr der Ringe‹?«
Perry ging langsam zur Tür. »Nein, Golems«, erwiderte sie geistesabwesend. »Menschen aus Lehm.«
Sophie konnte mit dem Begriff nichts anfangen. Mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Panik beobachtete sie, wie das Wesen – der Golem – von der Straße in den Schatten der Markise kroch. Wie eine riesige Schnecke ließ er eine feuchte, schlammige Spur hinter sich, die in der Sonne sofort trocknete. Bevor er zurück in die Buchhandlung kroch, sah Sophie noch einmal sein Gesicht. Es war zerflossen wie geschmolzenes Wachs und die Haut war von einem Netz von Rissen überzogen. Sie erinnerte an Wüstenboden.
Perry stürzte auf die Straße. Sophie sah, wie sie in Sekundenschnelle ihren kunstvollen Zopf löste und den Kopf schüttelte. Doch das offene Haar legte sich danach nicht auf ihren Rücken, sondern wurde wie von einer sanften Brise um ihr Gesicht geweht. Und das, obwohl es absolut windstill war.
Sophie zögerte nur einen Moment, dann schnappte sie sich einen Besen und rannte Perry nach. Josh war in der Buchhandlung!
In dem Buchladen herrschte völliges Chaos.
Die Bücher aus den sonst ordentlich eingeräumten Regalen und von den sauber aufgeschichteten Tischen lagen im ganzen Laden verstreut. Die Regale und Tische selbst waren zerbrochen und zerschmettert. Auf dem Boden lagen zerknitterte Kunstdrucke und Landkarten. Der Geruch von Fäulnis und Verwesung hing in der Luft. Selbst die Decke war in Mitleidenschaft gezogen, Putz war abgefallen, die Holzbalken waren zu sehen und elektrische Kabel hingen herunter.
Der kleine Mann in Grau stand mitten im Raum. Er klopfte sich sorgfältig den Staub von den Jackettärmeln, während zwei seiner Golems lautstark den Keller zu durchsuchen schienen.
Der dritte Golem lehnte steif und mitgenommen von seinem unfreiwilligen Aufenthalt in der Sonne an einem kaputten Buchregal. Fetzen von grauer, erdiger Haut lösten sich von dem, was von seinen Händen noch übrig war.
Der kleine Mann drehte sich um, als Perry, gefolgt von Sophie, in die Buchhandlung stürmte. Er verneigte sich leicht. »Ah, Madame Perenelle. Ich habe mich schon gefragt, wo du bist.«
»Wo ist Nicholas?«, wollte Perry wissen. Sie sprach den Namen »Nikola« aus.
Sophie sah, wie sich an Perrys Haar statische Elektrizität entlud und blaue und weiße Funken heraussprühten.
»Unten, nehme ich an. Meine Geschöpfe suchen ihn.«
Den Besen fest in der Hand, schlüpfte Sophie an Perry vorbei und schlich zum hinteren Teil der Buchhandlung. Josh. Wo war Josh? Sie hatte keine Ahnung, was hier vorging, und sie wollte es auch lieber gar nicht wissen. Sie musste nur ihren Bruder finden.
»Du bist so hübsch wie eh und je«, sagte der graue Mann zu Perry. »Und keinen Tag älter bist du geworden.« Er verbeugte sich noch einmal, eine altmodische Höflichkeitsgeste, die er mühelos beherrschte. »Es ist immer eine Freude, dich zu sehen.«
»Ich wünschte, ich könnte dasselbe auch von dir sagen, Dee.« Perry kam weiter in den Laden herein und sah sich nach allen Seiten um. »Ich habe dich an deinem faulen Geruch erkannt.«
Der Mann, den Perry Dee nannte, schloss die Augen und atmete tief durch. »Ich liebe Schwefelduft. Er ist so...« Er hielt kurz inne. »… so dramatisch.« Dann öffnete er die grauen Augen wieder und sein Lächeln verflog. »Wir sind wegen des Buches gekommen, Perenelle. Und erzähl mir nicht, dass ihr es vernichtet habt«, fügte er hinzu. »Deine anhaltend gute Gesundheit ist Beweis genug für seine Existenz.«
Welches Buch?, überlegte Sophie und schaute sich verwundert um. Der ganze Laden war voller Bücher.
»Du weißt sehr gut, dass wir die Hüter des Buches sind«, sagte Perry, und etwas in ihrer Stimme veranlasste Sophie, sich zu ihr umzudrehen. Mit offenem Mund, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen, hielt Sophie mitten in der Bewegung inne. Ein silberner Nebel umgab Perry Fleming; in hauchdünnen Schwaden stieg er von ihrer Haut auf. Fast überall war er zart und durchsichtig, doch um ihre Hände herum ballte er sich zusammen, sodass es aussah, als trüge sie metallene Schutzhandschuhe. »Du wirst es nie bekommen«, sagte Perry leise.
»Oh doch. Wir haben uns im Lauf der Jahre all die anderen Schätze angeeignet. Fehlt nur noch das Buch. Mach es dir leicht und sage mir, wo es ist.«
»Niemals!« Jetzt war Perrys Stimme laut und fest.
»Ich wusste, dass du das sagst«, erwiderte Dee. Er gab dem riesigen Golem ein Zeichen und der warf sich auf Perry. »Menschliches Verhalten ist so leicht vorherzusehen.«
Nick Fleming und Josh wollten gerade die Tür öffnen, die von der Reinigung hinaus auf den Gehweg führte, als sie sahen, wie Perry, gefolgt von Sophie, über die Straße in die Buchhandlung rannte.
»Sieh zu, dass du die Tür aufkriegst«, befahl Nick atemlos und griff unter sein Shirt. Aus einem einfachen rechteckigen Stoffbeutel, den er um den Hals trug, zog er etwas heraus, das aussah wie ein kleines, mit kupferfarbenem Metall beschlagenes Buch.
Josh schob die Riegel zurück, riss die Tür auf, und Nick rannte hinaus, wobei er rasch die abgegriffenen Seiten des Buches durchblätterte. Offenbar suchte er nach etwas. Josh konnte, als er hinter Nick zurück in die Buchhandlung lief, auf dem gelben Papier kurz eine verschnörkelte Schrift und geometrische Muster erkennen.
Im Laden sahen sie gerade noch, wie der Golem sich auf Perry stürzte.
Und explodierte.
Feiner, körniger Staub erfüllte die Luft und der dicke schwarze Mantel fiel auf den Boden. Einen Augenblick lang wirbelte eine Miniaturwindhose über der Stelle und blies lehmigen Staub auf, dann drehte sie ab.
Doch das Eintreffen von Nick und Josh lenkte Perry, die den Golem abgewehrt hatte, ganz offensichtlich ab. Sie drehte sich halb um – und in dem Moment fuhr Dee sich mit dem linken Arm über die Augen und warf eine winzige Kristallkugel auf den Boden.
Es war, als explodiere die Sonne in dem Raum.
Das Licht war unbeschreiblich grell und blendend und überzog die gesamte Buchhandlung mit seinem gleißenden Schein. Und mit dem Licht kam der Geruch: ein Gestank nach angesengtem Haar und verkochtem Kohl, nach modrigem Laub und stechenden Dieseldämpfen.
Im selben Moment, in dem Dee die Kugel geworfen hatte, hatte Josh ganz kurz erfasst, dass auch seine Schwester im Raum war. Dann hatten Nick und Perry, die das gleißende Licht zu Boden warf, ihn mit sich gerissen. Als er sich langsam wieder aufrappelte, tanzte vor Joshs geblendeten Augen ein Kaleidoskop aus schwarz-weißen Funken. Dann sah er, wie Fleming das metallbeschlagene Buch fallen ließ... sah zwei schwarz gekleidete Gestalten neben Perry auftauchen und hörte Flemings Frau wie aus weiter Ferne schreien … sah, wie Dee sich das Buch mit einem triumphierenden Laut schnappte, während Nick blind über den Boden tastete.
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