Da wusste er plötzlich, dass es tatsächlich Steine waren.
Josh wandte sich zu seinem Chef um und öffnete den Mund, wie um eine verzweifelte Frage zu stellen. Nick Fleming warf ihm nur einen kurzen Blick zu. »Unten bleiben!«, schrie er. »Er hat Golems mitgebracht.«
Fleming duckte sich, als der kleine Mann drei lange, speerähnliche Energiestäbe durch den Raum schickte. Sie flogen zischend durch Bücherregale und bohrten sich in den Boden. Alles, was sie berührten, begann augenblicklich zu verrotten und zu vermodern. Ledereinbände brachen, Papier wurde schwarz, Holzdielen und Regalbretter zerfielen zu feinem Staub.
Fleming warf einen weiteren unsichtbaren Ball in eine Ecke des Raumes. Josh folgte der Bewegung seines Armes. Ein Sonnenstrahl traf den Ball in seinem Flug durch die Luft, und für einen Augenblick sah Josh ihn aufleuchten, in verschiedenen Grüntönen funkelnd und schimmernd wie eine Smaragdkugel. Dann flog er aus dem Licht und wurde wieder unsichtbar.
Die Folgen seines Aufpralls waren verheerend, weit schlimmer noch als beim vorherigen Mal. Diesmal war kein Laut zu hören, doch das gesamte Gebäude erbebte. Tische mit billigen Taschenbüchern darauf zerfielen zu streichholzgroßen Spänen und Papierschnipsel flogen wie bizarres Konfetti durch die Luft. Zwei der Männer in Schwarz – Golems, wie Fleming sie genannt hatte – krachten rückwärts in Regale und wurden unter Büchern begraben, während der dritte, der größte, mit solcher Wucht gegen die Tür prallte, dass sie aufschlug und er auf die Straße flog.
In der Stille, die darauf folgte, hörte man das Klatschen von behandschuhten Händen.
»Wie ich sehe, hast du deine Technik perfektioniert, Nicholas.« Der Graue sprach Englisch in einem seltsam singenden Tonfall.
»Ich habe geübt, John«, erwiderte Nick Fleming, wobei er langsam wieder näher an die offene Kellertür rückte und Josh weiter hinunterdrückte. »Ich wusste, dass du mich früher oder später finden würdest.«
»Wir haben sehr lange nach dir gesucht, Nicholas. Du hast etwas, das uns gehört. Und wir wollen es zurückhaben.«
Ein gelber Rauchfetzen bohrte sich in die Decke über Flemings und Joshs Kopf. Es knisterte und vermoderter schwarzer Putz fiel herunter wie giftige Schneeflocken.
»Ich habe es verbrannt«, sagte Fleming. »Schon vor langer Zeit.« Er drückte Josh noch weiter in den Keller hinunter, trat selbst auf die Treppe und zog dann die Schiebetür hinter sich zu. »Frag nicht«, warnte er, und seine hellen Augen leuchteten im Dämmerlicht, »nicht jetzt.«
Fleming fasste Josh am Arm und zog ihn in die dunkelste Ecke des Kellers. Dort packte er ein Regal mit beiden Händen und zog es mit einem Ruck zu sich her. Etwas klickte und das Regal schwang auf. Dahinter kam eine verborgene Treppe nach oben zum Vorschein.
Fleming schob Josh vorwärts. »Schnell jetzt, schnell und leise«, sagte er.
Er trat hinter Josh durch die Öffnung und versuchte, das Regal wieder davorzuziehen. Im selben Augenblick sah Josh, wie die Kellertür zu einer fauligen schwarzen Flüssigkeit zusammensackte und die Treppe hinunterfloss.
»Hinauf!« Das Regal hinter ihnen rastete ein. Nick Flemings warmer Atem streifte Joshs Ohr. »Die Treppe führt in den leeren Laden neben unserem. Wir müssen uns beeilen. Dee wird nur wenige Augenblicke brauchen, bis er merkt, was los ist.«
Josh Newman nickte; er kannte den Laden nebenan. Es war eine Reinigung, die den ganzen Sommer über leer gestanden hatte. Während er weiterhastete, tanzten durch Joshs Kopf Hunderte von Fragen, und keine der möglichen Antworten, die ihm in den Sinn kamen, war befriedigend, da in den meisten ein einziges, unglaubliches Wort vorkam: Magie . Josh hatte gerade gesehen, wie zwei Männer sich mit Bällen und Speeren aus – aus Energie beworfen hatten! Er war höchstpersönlich Zeuge der Zerstörung gewesen, die diese Energie angerichtet hatte.
Josh war Zeuge von Magie gewesen.
Aber natürlich wusste er, dass es Magie nicht gab und nicht geben konnte. Das wusste schließlich jeder.
W oher kam nur dieser eklige Gestank? Sophie Newman wollte gerade wieder ihr Headset ins Ohr drücken, als ihr ein beißender Geruch in die Nase stieg. Ihre Nasenflügel bebten. Sie klappte ihr Telefon zu, steckte das Headset in die Tasche, beugte sich über eine offene Dose mit schwarzem Tee und atmete tief ein.
Seit sie und ihr Bruder für diesen Sommer nach San Francisco gekommen waren, arbeitete sie in der »Kaffeetasse«, einem Café, das Dutzende verschiedener Kaffee- und Teesorten anbot. Der Job war okay, nichts Besonderes. Die meisten Kunden waren nett, einige wussten nicht, wie man sich benahm, und gelegentlich war auch mal einer dabei, der schlicht unverschämt war. Aber die Arbeitszeit stimmte, die Bezahlung war gut, die Trinkgelder waren noch besser, und der Laden hatte den zusätzlichen Vorteil, dass er genau gegenüber der Buchhandlung lag, in der ihr Zwillingsbruder arbeitete. Sie waren letzten Dezember fünfzehn geworden und hatten bereits angefangen, auf ein eigenes Auto zu sparen. Ihrer Schätzung nach hatten sie das Geld in frühestens zwei Jahren zusammen – falls sie keine CDs, DVDs, Computerspiele, Klamotten und Schuhe (Sophies große Schwäche) kauften.
Normalerweise waren sie zu dritt im Café, aber eine Kollegin hatte sich krank gemeldet, und Bernice, die Besitzerin, war nach dem mittäglichen Ansturm zum Großhändler gefahren, um die Tee- und Kaffeevorräte aufzustocken. Sie hatte versprochen, in einer Stunde wieder zurück zu sein, aber Sophie wusste aus Erfahrung, dass es mindestens doppelt so lang dauern würde.
In den vergangenen Tagen hatte Sophie gelernt, die unterschiedlichen exotischen Tee- und Kaffeesorten, die sie verkauften, am Duft zu erkennen. Sie konnte Earl Grey und Darjeeling auseinanderhalten und kannte den Unterschied zwischen javanischem und kenianischem Kaffee. Sie mochte den Kaffeeduft gern, nur der bittere Geschmack war ihr zuwider. Aber sie liebte Tee. Nach und nach hatte sie alle Teesorten ausprobiert, vor allem die Kräutertees in fruchtigen Geschmacksrichtungen und mit ungewöhnlichen Aromen.
Aber jetzt roch etwas ganz widerlich.
Fast wie faule Eier.
Sophie hielt sich eine Teedose unter die Nase und atmete wieder tief ein. Das frische Aroma des Assams drang bis in ihre Kehle. Daher kam der Gestank nicht.
»Eigentlich ist er zum Trinken da, nicht zum Inhalieren.«
Sophie drehte sich um. Perry Fleming hatte das Café betreten. Sie war eine große, elegante Erscheinung, die jedes Alter zwischen vierzig und sechzig hätte haben können. Früher musste sie eine Schönheit gewesen sein und auch heute noch zog sie die Blicke auf sich. Sophie hatte noch nie so leuchtend grüne Augen gesehen und hatte sich im Stillen gefragt, ob die Frau wohl gefärbte Kontaktlinsen trug.
Perry hatte offensichtlich einmal rabenschwarzes Haar gehabt, doch inzwischen war es von Silberfäden durchzogen. Sie trug es zu einem kunstvollen Zopf geflochten, der ihr über den Rücken fiel und fast bis zur Taille reichte. Sie hatte wunderschöne Zähne und von ihren Augenwinkeln gingen winzige Lachfältchen aus. Sie war immer sehr viel eleganter gekleidet als ihr Mann, und an diesem Tag trug sie ein minzgrünes, ärmelloses Sommerkleid, das zu ihren Augen passte und, wie Sophie annahm, wahrscheinlich aus reiner Seide war.
»Ich dachte eben, er riecht etwas seltsam«, sagte Sophie und steckte noch einmal ihre Nase in den Tee. »Jetzt ist es okay, aber einen Augenblick lang dachte ich tatsächlich, er riecht nach … nach faulen Eiern.«
Sie hatte Perry Fleming angeschaut, als sie das sagte, und erschrak richtig, als sie sah, wie Perry zusammenzuckte, die Augen aufriss, herumwirbelte und zur anderen Straßenseite hinüberschaute – genau in dem Moment, als die kleinen Scheiben in den Sprossenfenstern der Buchhandlung Sprünge bekamen und zwei große Scheiben einfach explodierten und zu Staub zerfielen. Grüne und gelbe Rauchwölkchen zogen heraus auf die Straße und die Luft war erfüllt vom Gestank fauler Eier. Sophie roch noch etwas anderes: den scharfen, frischen Duft von Pfefferminze.
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