Zwei Schlossdiener eilten ihm zu Hilfe, und Jake konnte nicht widerstehen, Charlie ein wenig aufzuziehen. »Er ist neu, und wir müssen ihn erst noch richtig einarbeiten. Es ist heutzutage verflucht schwierig, gutes Personal zu finden.«
Charlie schüttelte nur den Kopf und zischte unter zusammengebissenen Zähnen hervor: »Ich habe diese Rolle freiwillig übernommen und glaube doch etwas mehr Respekt verdient zu haben.«
Sie gingen die Treppe zum Haupteingang hinauf, als Topaz plötzlich stehen blieb. »Einen Moment«, keuchte sie und ergriff Jakes Arm. Ihr Gesicht war kreidebleich, die Augen rollten nach oben, dann sank Topaz mit flatternden Lidern in Jakes Arme.
»Topaz!«, rief Jake.
Alle auf dem Schlosshof schauten in ihre Richtung, und besorgte Diener eilten herbei.
»Du meinst Irina «, flüsterte Charlie, der bemerkt hatte, wie Mina Schlitz sie vom Balkon aus genau beobachtete.
Topaz kam wieder zu sich und machte sich von Jake los.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Ja, natürlich. Es ist nur die Höhe, das ist alles«, gab sie fröhlich zurück. »Wollen wir …?« Mit diesen Worten nahm sie die letzten Stufen und verschwand durch den Eingang, als wäre nichts geschehen.
Der Vorfall beunruhigte Jake, aber er fing sich schnell und war wieder ganz der kühle Geschäftsmann.
Sie fanden sich in einer fürstlichen Eingangshalle wieder. Über zahllose Treppen wurden die ankommenden Gäste zu ihren Suiten geführt, und Jake kam sich vor wie in der geschäftigen Lobby eines Schweizer Nobel-Skihotels – bis auf die Tatsache natürlich, dass alle Anwesenden Kleidung des frühen sechzehnten Jahrhunderts trugen und Skifahren noch gar nicht erfunden war. Auf jeder Seite der Eingangshalle brannte ein großes Feuer, jeder Quadratzentimeter der Wände um sie herum war mit Geweihen, ausgestopften Bärenköpfen und ähnlich makabren Jagdtrophäen gepflastert.
»Wie überaus reizend«, kommentierte Charlie. »Der Anblick dieser toten Tiere macht mir unseren Gastgeber doch gleich viel sympathischer …«
Aber es ging noch weiter: In einer Ecke standen zwei Sofas mit Gestellen aus ausladenden Hirschgeweihen, von kleinen Podesten starrten sie ausgestopfte Adler, Falken und Habichte an, und der Steinboden war übersät mit Bärenfellen.
Jake, Topaz und ihr »Knecht« ließen sich von einem der Kuttenmänner die breite Haupttreppe hinaufführen. Über zahllose Korridore und weitere Stufen gelangten sie schließlich zu einer großen Doppeltür, hinter der die Charlemagne-Suite lag.
Die drei mussten sich gehörig zusammenreißen, um sich ihr Erstaunen nicht anmerken zu lassen. Die Suite war atemberaubend: Sie erstreckte sich über das gesamte oberste Stockwerk eines der Rondelle, war mit erlesensten Möbeln und Gobelins ausgestattet.
»Dort drüben ist etwas heiße Schokolade, falls sich die Herrschaften ein wenig aufwärmen wollen«, sagte der Diener mit eisig kalter Stimme und deutete auf einen Servierwagen mit einer dampfenden Kanne und zwei Tassen darauf. »Ein heißes Bad steht ebenfalls bereit. Das Dinner wird um sieben serviert.«
Diese Informationen richteten sich natürlich nur an Jake und Topaz. Charlie wartete mit gesenktem Haupt an der Tür.
Mit einem Nicken entfernte sich der Diener im Rückwärtsgang und schloss die Tür hinter sich.
Charlie stellte sofort sämtliche Gepäckstücke ab und entließ Mr Drake aus seinem mit Seide ausgepolsterten Gefängnis. Der Papagei stieß ein heiseres Krächzen aus und drehte eine Runde um den Kronleuchter an der Decke, um seine tauben Flügel ein wenig zu strecken.
»War es wirklich nur die Höhe?«, fragte Jake, erleichtert darüber, seine Maske für den Moment fallen lassen zu können.
Einen Moment lang reagierte Topaz nicht. »Es ist schon eine Weile her, dass ich in einem von Zeldts Schlössern gewesen bin. Die Erinnerung, sie hat mich wohl überwältigt, aber jetzt fühle ich mich wieder bestens.«
»Welche Erinnerung …?«, fragte Jake.
»Sehen wir uns doch einmal die Suite an«, erwiderte Topaz und ignorierte die Frage. Sie verschwand in den nächsten Raum, und Jake folgte stumm. Er hatte begriffen, dass die Unterhaltung fürs Erste beendet war.
Das Schlafzimmer war beinahe noch größer als der Wohnraum. Das riesige Himmelbett war mit extravaganten Samtvorhängen verziert, und das nur unwesentlich kleinere Badezimmer, in dem eine große, dampfende Badewanne magische Düfte nach Rose und Bergamotte verbreitete, war mit terrakottafarbenem Marmor gefliest.
Der atemberaubendste Anblick jedoch bot sich ihnen von der Terrasse aus. Draußen war es eisig kalt, und der Wind pfiff ihnen um die Ohren, doch sie bemerkten es kaum.
» Das nenne ich ein Panorama«, sagte Jake ehrfürchtig. Ihm war, als schaue er in die Unendlichkeit: Der Rhein wand sich bis zum Horizont, wo er zwischen den bewaldeten Hügeln verschwand, dazwischen lagen romantische Dörfer und Städtchen, weitere Schlösser thronten auf Bergkuppen nah und fern. Der Ausblick wäre zu jedem Zeitpunkt der Geschichte atemberaubend gewesen, doch so schön wie jetzt, im Jahr 1506 – lange vor allen »Segnungen« der Moderne wie Autos, Flugzeugen und Retortenstädten –, dachte Jake, würde er nie wieder sein. Mit leuchtenden Augen drehte er sich zu Topaz um, die genauso staunte wie er.
» C’est incroyable, non? Zeitreisen sind etwas Wunderbares«, sagte sie, als hätte sie Jakes Gedanken gelesen. »Es ist, wie wenn man den Sternenhimmel betrachtet: Je genauer man hinschaut, desto mehr sieht man.«
Nachdem sie alle ein ausgiebiges Bad genossen hatten (in einer Wanne mit fließend warmem Wasser aus goldenen Hähnen in der Form von Delfinen), wählten sie die geeignete Garderobe für den Abend aus. Ohne Nathans Expertenrat fiel ihnen die Aufgabe nicht leicht, doch schließlich entschied sich Jake für ein elegantes spanisches Wams aus leuchtend blauem Samt und dazu als Accessoire eine schwere goldene Halskette. Topaz wiederum wählte ein cremefarbenes Gewand aus schimmerndem Brokat. Nur Charlie blieb bei seinem einfachen Dienerkittel und den Kniehosen.
Um Punkt sieben kam ein Diener, um sie abzuholen. Schweigend führte er sie durch ein Labyrinth aus Treppen und Fluren zu einer prunkvollen Doppeltür.
»Du musst draußen bleiben«, teilte der Diener Charlie in barschem Tonfall mit. »Warte drüben bei den anderen Bediensteten.« Er deutete auf eine schmale Treppe, die zu einem Aufenthaltsraum für Personal führte, wo bereits eine Handvoll düster dreinblickender Leibdiener auf den Ruf ihrer Herrn wartete.
»Aber … gewöhnlich begleite ich Herrn und Frau Volsky überallhin«, stammelte Charlie und hätte dabei beinahe den russischen Akzent vergessen.
»Nur die geladenen Gäste dürfen diesen Saal betreten«, gab der Diener ungerührt zurück und hob eine Hand, um seiner Anordnung Nachdruck zu verleihen.
Charlie blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. »Ich will einen genauen Bericht von dem Bankett – alles, was im Laufe des Abends serviert wird, jedes einzelne Gericht, verstanden?«, flüsterte er Jake ins Ohr.
Jake nickte, und Charlie begab sich widerstrebend in den Aufenthaltsraum, in dem ihn vierzig Diener griesgrämig anstarrten, woran auch ein warmes Lächeln und ein freundliches Zwinkern seinerseits nichts änderten.
Jake und Topaz, die Volskys von Odessa, ließen sich unterdessen durch die Doppeltür geleiten, die sich wie durch Zauberhand von selbst öffnete. Der Anblick, der sich ihnen bot, ließ den beiden das Blut in den Adern gefrieren, und einen Moment lang konnten sie kaum atmen, doch irgendwie schafften sie es, sich nichts anmerken zu lassen, und traten ein.
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