Mit einem hohen, winselnden Schrei schnappte De Smedt nach Luft. Sein Gesicht wurde rosa, dann violett, und die Augen schienen aus den Höhlen treten zu wollen, während er hilflos nach der Schlinge um seinen Hals griff und dabei den Kelch umwarf.
Minas Schlange wand sich genüsslich, während ihre Herrin die Schlinge immer enger zog.
Jake versteckte seine bebenden Hände unter der Tafel, ein Auge auf die Schlange gerichtet, das andere auf Pieter De Smedts Gesicht. Er wollte aufstehen und dazwischengehen, sofort, doch Topaz hielt ihn zurück, eine Hand fest auf seinen Oberschenkel gepresst, während die Frau mit dem Kopfschmuck De Smedts Todeskampf mit einem sadistischen Lächeln auf den Lippen beobachtete.
Der Belgier stieß ein letztes Keuchen aus, Mina löste die Schlinge, dann sackte sein Kopf vornüber und schlug mit einem dumpfen Knall auf die Tafel. Die Schlange huschte blitzschnell zur Seite.
Wortlos stellte Mina De Smedts Kelch wieder auf, packte den Kragen seines Wamses und schleifte den leblosen Körper ein Stück von der Tafel weg, um ihn wie eine benutzte Serviette auf dem Boden liegen zu lassen.
Jake fragte sich, ob irgendwelche Angehörigen des Belgiers anwesend waren. An den Mienen der anderen Gäste konnte er es nicht ablesen, denn keiner wagte auch nur die geringste Reaktion zu zeigen.
Endlich nahm Mina ihre Schlange wieder an sich, küsste sie auf den Kopf und steckte das grausige Wesen zurück in den kleinen Käfig.
Jakes Blick wanderte zu De Smedts leeren, toten Augen, und Topaz verstärkte den Druck auf seinen Oberschenkel, um zu verhindern, dass er einen fürchterlichen Fehler beging.
»Du musst jetzt stark sein, Jake«, flüsterte sie ihm zu. »Mach keinen Fehler. Mina steht immer noch hinter uns.«
Ein rothaariger Mann, der ein paar Stühle entfernt von ihnen saß, drehte fragend den Kopf in ihre Richtung, da bekam Jake die in ihm aufsteigende Wut endlich unter Kontrolle, und er nickte Topaz kurz zu.
Zwei Wachen trugen die Leiche aus dem Saal, und die Doppeltüren schlossen sich hinter ihnen.
»Sonst noch jemand …?«, fragte Zeldt.
Alle Gäste schüttelten eifrig den Kopf, hoben die Kelche und begannen einer nach dem anderen zu trinken.
Jake blickte Topaz fragend an.
Topaz wusste, dass es auffallen würde, wenn sie nicht ebenfalls tranken – außerdem spürte sie, wie Minas Blick bereits in ihre Richtung wanderte. Mit einem knappen Nicken erhob sie ihren Kelch und schluckte.
Jake folgte ihrem Beispiel und bereitete sich auf einen ähnlich widerlichen Geschmack wie den des Atomiums vor, aber er schmeckte nur Wasser.
Zeldt erhob sich. »Miss Schlitz wird Euch, verehrte Freunde, mit ausreichend Elixier für Eure Familien versorgen.«
Mina zog Zeldts Stuhl zurück, und er war schon auf dem Weg zu der kleinen Tür, als er sich noch einmal umdrehte und in geheimnisvollem Tonfall hinzufügte: »Doch nun, seid meine Gäste. Ich wünsche allseits gut zu speisen.« Mit diesen Worten entschwand er in die Dunkelheit.
Nur Augenblicke später schwangen die Doppeltüren erneut auf, und eine ganze Armee von Dienern kam herein, um das Dinner zu servieren.
Wie sich mit der Dekoration der Eingangshalle bereits angedeutet hatte, war das Hauptgericht des Abends Fleisch. Es gab gedünsteten Schinken mit Nelkensoße und Weißkohl, Coq au vin, Gans in Mandelsoße, geröstete Entenbrust im Gewürzmantel und eine gigantisch große Platte Rotwildpastete, eigens mit einem prächtigen Geweih dekoriert.
Topaz war der Appetit vergangen und Jake erst recht, aber sie wussten, dass ihnen gar nichts anderes übrig blieb, als zu essen, wenn sie keinen Verdacht erregen wollten. Manche der Gäste fingen Gespräche mit ihren Sitznachbarn an, aber es blieb die Ausnahme: Eine Versammlung steinreicher Geschäftsleute, von denen jeder sich für etwas Besseres hielt als sein Gegenüber, war nicht gerade der ideale Ausgangspunkt für ein unbeschwertes Fest.
Während Jake das viel zu fette Essen hinunterwürgte, wanderten seine Augen immer wieder zu dem Platz, auf dem zwanzig Minuten zuvor noch Pieter De Smedt gesessen hatte. Nathan hatte ihn gewarnt und ihm angedeutet, wozu Zeldt imstande war, aber das waren nur abstrakte Worte gewesen – der leere Stuhl neben ihm war eine Tatsache.
Gerade als Jake und Topaz glaubten, sie könnten sich davonstehlen, wurde das Dessert aufgetragen.
»Pfirsichtarte, Zitronencreme, Pflaumen in Sirup, Mandelplätzchen mit Orangensoße«, verkündeten die Diener.
Jake und Topaz wählten, was als kleinste Portion zu haben war, und überlegten, ob sie etwas davon zu Charlie hinausschmuggeln sollten, kamen aber zu dem Schluss, dass es zu riskant war.
Endlich neigte sich das Dinner dem Ende zu, und die Gäste begannen, den Saal zu verlassen. Jake und Topaz blickten sich vorsichtig um, dann standen sie ebenfalls auf und schlüpften unauffällig hinaus.
»Suppe! Nichts als lausige Suppe!«, beschwerte sich Charlie auf dem Weg zurück zu ihrer Suite. »Und wie lausig: nicht mal Erbsen mit Thymian oder Steinpilze oder so etwas, nein, fade Blumenkohlsuppe, oder besser gesagt, in lauwarmem Wasser schwimmende Kohlköpfe. Das war das einzig Vegetarische, das es gab. Ansonsten hatten sie nur gekochte Schweinefüße! Und dabei war die Blumenkohlsuppe sogar noch besser als die Unterhaltung. Ich weiß jetzt alles über Achsen, Deichseln und Wagenräder, was man nur wissen kann, und dass man östlich der Oder auf keinen Fall eine Kutsche kaufen sollte. Wenn ihr mir also – zu meinem eigenen Besten, wie ihr behauptet – nicht von dem Menü des Abends erzählen wollt, dann sagt mir wenigstens, über was geredet wurde.«
Jake und Topaz gaben ihm eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse während des Dinners und schlossen ihren Bericht mit dem grausigen Ableben Pieter de Smedts ab.
»Um Himmels willen«, kommentierte Charlie bleich. »Ich habe gesehen, wie sie ihn herausgetragen haben. Dachte, er hätte sich den Magen mit Austern verdorben oder etwas in der Art … Was immer Zeldt vorhat, es muss etwas Großes sein.«
»Seht!«, rief Jake und blickte den Korridor entlang.
Mina Schlitz war eben um die Ecke gebogen und kam in ihre Richtung. Eilig zogen sie sich in den Schatten hinter einer römischen Kriegerstatue zurück.
Vor einem steinernen Brunnen blieb Mina stehen. Sie blickte kurz nach links und rechts, um sicherzugehen, dass niemand sie beobachtete, dann machte sie etwas mit der Hand, das die Agenten hinter der Statue nicht sehen konnten, und ein Stück der Wand neben dem Brunnen glitt knirschend zur Seite. Mina schlüpfte durch den schmalen Spalt und verschwand über eine Treppe nach unten, während der Geheimdurchgang sich bereits wieder hinter ihr schloss.
Jake, Topaz und Charlie blickten einander an.
»Ich schätze, hinter dieser Tür dürften ein paar Antworten auf uns warten«, flüsterte Charlie. »Wir kommen später zurück und sehen uns das mal genauer an.«
23

ENTHÜLLUNGEN
Rose Djones machte die ganze Nacht kein Auge zu. Sie war verwirrt, weil sie die gefleckte Rose entdeckt hatte und die alten Notizzettel, und die Erinnerung daran, wie Jupitus sie in dem Raum hinter der Bibliothek der Gesichter angesehen hatte, verfolgte sie. Sie fragte sich, ob es wirklich Verliebtheit gewesen war, die sie in seinem sonst so undurchdringlichen Blick gesehen hatte. Außerdem fragte sie sich, warum sie Schmetterlinge im Bauch hatte. »Ausgeschlossen«, sagte sie laut zu sich selbst, »dass ich Gefühle für diesen fischigen Schnösel habe!«
In den fünfundzwanzig Jahren, die Rose Jupitus Cole kannte (als sie jünger waren, hatten sie einige Einsätze zusammen durchführen müssen), hatte er nie auch nur das geringste Anzeichen von Zuneigung gezeigt.
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