»Ist das …?«
»Ein Dodo, genau«, sagte Jupitus, ohne von seinen Papieren aufzublicken. »Einer der Letzten, die auf unserer Erde gewandelt sind. Aber damit ist es nun, wie man deutlich erkennen kann, auch für ihn vorbei. Und du fragst dich wahrscheinlich, was du hier eigentlich machst und wer wir alle sind.«
»Noch viel mehr als das: Vor allem möchte ich wissen, woher Sie meine Eltern kennen«, erwiderte Jake.
»Zuerst muss ich mir deine Augen mal ansehen«, entgegnete Jupitus, ohne auf Jakes Worte einzugehen.
»Meine Augen …?«
Jupitus öffnete eine Schublade in seinem Schreibtisch und zog ein fein gearbeitetes Instrument aus dunklem Holz mit silbern glänzenden Metallteilen daran hervor. Für Jake sah es aus wie eine dieser Lupen, mit denen Juweliere teure Edelsteine untersuchen. Jupitus streifte den Riemen über den Kopf, schob das Okular über sein rechtes Auge und kam um den Tisch herum.
»Setz dich auf diesen Stuhl«, befahl er.
»Mit meinen Augen ist alles in Ordnung.«
Jupitus reagierte nicht, sondern wartete, bis Jake tat, wie er ihn geheißen hatte, und schließlich setzte Jake sich zögernd hin.
»Stell das hier ab«, sagte Jupitus und deutete auf Jakes Schultasche.
Jake nahm die Tasche von der Schulter und legte sie auf den Tisch.
Mit einem Drehregler schaltete Jupitus eine kleine Lampe an dem Gerät ein und hob Jakes Kinn. »Augen möglichst weit auf, bitte«, sagte er und beugte sich nach vorn, um Jakes rechte Pupille zu inspizieren.
»Was soll das Ganze?«
»Schhhh!« Jupitus zog eine Grimasse und wechselte zu Jakes linkem Auge. »Und jetzt schließe deine Augen, so schnell du kannst.«
Jake gehorchte, und Jupitus richtete die Lichtquelle an dem Gerät abwechselnd auf seine geschlossenen Lider.
»Jetzt sag mir, was für Formen du siehst.«
»Formen? Ich sehe rein gar nichts.«
»Natürlich tust du das! Du siehst Umrisse. Umrisse verschiedener Größe, aber alle mit derselben Form – Rechtecke, Quadrate, Kreise, was siehst du? Schau genau hin.«
Jake konzentrierte sich, und tatsächlich sah er etwas. »Hmm, sieht irgendwie aus wie … Diamanten.«
»Diamanten? Wirklich? Keine Rechtecke oder Quadrate?«, fragte Jupitus ungläubig.
»Ja doch! Diamanten. Jede Menge.«
Jupitus wirkte wütend, als hätte Jake ihn beleidigt. »Sind sie symmetrisch geformt, klar definiert oder verschwommen?«, bohrte er nach.
»Die Umrisse sind klar, würde ich sagen.«
Bebend holte Jupitus tief Atem. »Du Glückspilz«, sagte er kaum hörbar, zog das Instrument vom Kopf und kehrte zu seinem Schreibtisch zurück.
»Ich werde nicht lange um den heißen Brei herumreden. Wir reisen nach Frankreich. Per Schiff. Du musst uns begleiten.«
Jake lachte nur. »Wie bitte? Frankreich? Heute Nacht noch?«
»Ich weiß, das kommt ein bisschen plötzlich. Aber wir haben alles, was du brauchst: Kleidung, Essen, egal was. Wirst du leicht seekrank? Es könnte eine stürmische Überfahrt werden.«
»Nein, aber trotzdem, ich meine … Wer sind Sie und Ihre Leute überhaupt?«
Jupitus schaute ihn verächtlich an. »Vielleicht bleibst du ja lieber in London, an dieser langweiligen, drittklassigen Schule. Stures Lernen tagaus, tagein, Geschichtsdaten und Formeln.« Mit einer lässigen Geste zog er ein Schulbuch aus Jakes Tasche und blätterte es durch. »Wozu? Um sinnlose Prüfungen zu bestehen? Einen höheren ›Bildungsweg‹ einzuschlagen, damit du einen geisttötenden Beruf ergreifen und ein langweiliges, bedeutungsloses Leben führen kannst, an dessen Ende ein ebenso bedeutungsloser Tod wartet?«
Jake schüttelte heftig den Kopf. Er verstand überhaupt nichts mehr.
Mit einem lauten Knall klappte Jupitus das Buch zu und stopfte es zurück in die Schultasche. »Wenn du Bildung willst, ist die Welt der Ort, um sie zu erlangen: Unsere Erde ist weit reichhaltiger und komplexer, als du es dir selbst in deinen kühnsten Träumen vorstellen kannst!«
Jake betrachtete den Mann vor ihm. Irgendwie hatte dieser letzte Satz etwas in ihm angerührt. »Na ja, es geht hier ja wohl nicht nur um meine Schule …«, begann er. »Meine Eltern wären wohl kaum begeistert, wenn ich mit einem Haufen wildfremder Leute einfach so nach Frankreich verschwinden würde. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber Sie scheinen mir alle nicht ganz richtig im Kopf … Diese seltsamen Klamotten, die Sie tragen, und die komische Art, wie Sie sprechen.« Jake versuchte ruhig zu bleiben, aber seine Hände zitterten.
»Deine Eltern, sagst du? Es geschieht um ihretwillen, dass ich dich bitte, mit uns zu kommen. Sie sind verschollen, musst du wissen.«
»Was?«, keuchte Jake. »Wie meinen Sie das?«
»Aller Wahrscheinlichkeit nach sind sie in Sicherheit. Sie haben eine zähe Natur, die beiden, und haben im Lauf der Jahre einiges an gefährlichen Situationen gemeistert. Tatsache ist jedoch, dass wir den Kontakt zu ihnen verloren haben, und das seit drei Tagen. Wir beginnen uns Sorgen zu machen.«
Jakes Kopf drehte sich. »Entschuldigung, aber ich verstehe nicht ganz. Woher kennen Sie meine Eltern überhaupt?«
Jupitus bedachte Jake mit einem kühlen Blick, bevor er antwortete. »Wir arbeiten für dieselbe Organisation«, sagte er und deutete mit ausladender Geste auf sein Büro. » Diese Organisation.«
Einen Moment lang herrschte Stille, dann lachte Jake laut los. »Wissen Sie, Sie haben gerade einen Fehler gemacht. Meine Eltern verkaufen Badezimmereinrichtungen: Waschbecken, Bidets, Badewannen. Während wir uns hier unterhalten, kommen sie gerade von einer Messe aus Birmingham zurück. Und das hätten Sie natürlich gewusst, wenn Sie meine Eltern tatsächlich kennen …«
»Alan und Miriam Djones«, unterbrach Jupitus, »fünfundvierzig beziehungsweise dreiundvierzig Jahre alt. Hochzeit auf der griechischen Insel Rhodos in einem an der Küste gelegenen Orangenhain. Ich gehörte zu den geladenen Gästen. Unvergesslicher Tag«, fügte er ohne jede erkennbare Leidenschaft hinzu. »Der Name ›Djones‹ mit stummem ›D‹ ist selbstredend ungewöhnlich. Ein Sohn« – Jupitus deutete beiläufig auf Jake –, »Jake Archie Djones, vierzehn Jahre, hat keine Ahnung, wer er ist. Ein weiterer Sohn, Philip Leonardo Djones, ist vor drei Jahren im Alter von fünfzehn Jahren verstorben.«
»Halten Sie die Klappe!«, rief Jake und sprang, außer sich vor Wut, auf die Füße.
Jupitus hatte mit geradezu widerwärtiger Nonchalance das einzige Thema angesprochen, das Jake heilig war: seinen älteren Bruder Philip.
»Ich werde hier sofort verschwinden! Von wegen, mit dem Schiff nach Frankreich fahren, mir neugierig in die Augen starren … Sie sind doch total durchgeknallt!« Er warf Jupitus einen wütenden Blick zu, packte seine Schultasche und stürmte mit bebenden Lippen auf die Tür zu. Es kostete ihn einige Kraft, seine Selbstbeherrschung zu wahren.
»Wenn du jetzt gehst, wirst du deine Eltern vielleicht nie wiedersehen!«, verkündete Jupitus mit solchem Nachdruck, dass Jake wie vom Blitz getroffen stehen blieb.
»Wie dir bereits gesagt wurde, wird auch deine Tante hierherkommen«, fügte Jupitus ihn etwas sanfterem Ton hinzu. »Sie wird uns begleiten und kann dir alles erklären. Ihr rechtzeitiges Erscheinen vorausgesetzt, natürlich. Pünktlichkeit war noch nie ihre Stärke.«
Jake drehte sich um. Er war jetzt so verwirrt, dass er kaum noch denken konnte.
»Wenn du deine Eltern wiedersehen willst, wenn du am Leben bleiben willst, hast du in der Tat keine andere Wahl, als mit uns zu kommen«, beendete Jupitus seinen Vortrag mit ernster Stimme.
Jake war schwindelig, aber er hatte zumindest seine Sprache wiedergefunden: »Wo genau in Frankreich fahren Sie hin?«
Zum ersten Mal sah Jupitus Jake mit einem Anflug von Respekt an. »An einen Ort, an dem du mit Sicherheit noch nie in deinem Leben gewesen bist.«
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