Knusper, knusper, Knäuschen, wer knuspert an meinem Häuschen ...
Welche Version der Geschichte hatte Clara gehört?
Da packte sie Hänsel mit ihrer dürren Hand und trug ihn in einen kleinen Stall und sperrte ihn mit einer Gittertüre ein: Er mochte schreien, wie er wollte. Es half ihm nichts.
»Pass auf, dass sie nicht von den Kuchen isst«, sagte Jacob zu Fuchs. Und machte sich auf die Suche nach den Beeren.
Hinter dem Haus wuchsen die Nesseln so hoch, dass es aussah, als stünden sie Wache um den Garten der Hexe. Sie verbrannten Jacob die Haut, doch er bahnte sich einen Weg durch ihre giftigen Blätter, bis er zwischen Schierling und Tollkirschen das fand, was er suchte: einen unscheinbaren Busch mit gefiederten Blättern. Jacob füllte sich die Hand mit seinen schwarzen Beeren, als er Schritte hinter sich hörte.
Clara stand zwischen den verwilderten Beeten.
»Eisenhut. Schattenblumen. Schierlingskraut.« Sie sah ihn fragend an. »Das sind alles Giftpflanzen.«
Offenbar lernte sie als Studentin der Medizin auch ein paar nützliche Dinge. Will hatte ihm schon ein Dutzend Mal erzählt, wie er ihr im Krankenhaus begegnet war. Auf der Station, auf der ihre Mutter behandelt worden war. Als du nicht da warst, Jacob.
Er richtete sich auf. Aus dem Wald war wieder das Schnippen zu hören.
»Manchmal braucht man Gift, um zu heilen«, sagte er. »Dir muss ich das wohl nicht erklären. Obwohl du über diese Beeren sicher nichts gelernt hast.«
Er füllte ihr die Hände mit den schwarzen Früchten.
»Will muss ein Dutzend davon essen. Bis die Sonne aufgeht, sollten sie gewirkt haben. Überrede ihn, sich im Haus schlafen zu legen. Er hat seit Tagen kaum ein Auge zugemacht.«
Goyl brauchten wenig Schlaf. Einer der vielen Vorteile, die sie Menschen gegenüber hatten.
Clara blickte auf die Beeren in ihrer Hand. Sie hatte tausend Fragen auf den Lippen, aber sie stellte sie nicht. Was hatte Will ihr über ihn erzählt? Ja, ich habe einen Bruder. Aber er ist schon lange ein Fremder für mich.
Sie drehte sich um und lauschte in den Wald. Diesmal hatte sie das Schnippen auch gehört.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Sie nennen ihn den Schneider. Er traut sich nicht durch den Zaun, aber wir können nicht wieder fort, solange er da ist. Ich werde versuchen, ihn zu vertreiben.« Jacob zog den Schlüssel aus der Tasche, den er aus der Truhe in Chanutes Gasthaus genommen hatte. »Der Zaun wird euch nicht wieder herauslassen, aber dieser Schlüssel öffnet jede Tür. Ich werde ihn übers Tor werfen, sobald ich draußen bin, für den Fall, dass ich nicht zurückkomme. Fuchs wird euch zu der Ruine zurückbringen. Aber schließ das Tor nicht auf, bevor es hell wird.«
Will stand immer noch am Brunnen. Als er auf Clara zuging, stolperte er vor Müdigkeit.
»Lass ihn nicht in dem Zimmer mit dem Ofen schlafen«, raunte Jacob ihr zu. »Die Luft dort beschert finstere Träume. Und pass auf, dass er mir nicht nachkommt.«
Will aß die Beeren, ohne zu zögern. Der Zauber, der alles heilt. Schon als Kind hatte er viel leichter an solche Wunder geglaubt als Jacob. Man sah ihm an, wie müde er war, und er ließ sich ohne Protest von Clara in das Lebkuchenhaus ziehen. Hinter den Bäumen ging die Sonne unter und der rote Mond hing über den Wipfeln wie ein blutiger Fingerabdruck. Wenn die Sonne ihn ablöste, würde der Stein in der Haut seines Bruders nur noch ein böser Traum sein. Falls die Beeren wirkten.
Falls.
Jacob trat an den Zaun und blickte in den Wald.
Schnippschnapp.
Ihr Verfolger war noch da.
Fuchs blickte Jacob besorgt nach, als er auf die Stute zuging und Chanutes Messer aus der Satteltasche zog. Gegen den, der da draußen wartete, halfen keine Kugeln. Angeblich machten sie den Schneider sogar stärker.
Der Wald füllte sich mit tausend Schatten und Jacob glaubte, zwischen den Bäumen eine dunkle Gestalt stehen zu sehen. Wenigstens wird er dir die Wartezeit bis zum Morgen verkürzen, Jacob. Er schob sich das Messer in den Gürtel und nahm die Taschenlampe aus dem Rucksack. Fuchs lief ihm nach, als er auf den Zaun zuging.
»Du kannst nicht da raus. Es wird schon dunkel.«
»Und?«
»Vielleicht ist er bis zum Morgen fort!«
»Warum sollte er?«
Das Zauntor sprang auf, sobald Jacob den Schlüssel in das verrostete Schloss schob.
Bestimmt hatten schon viele Kinderhände vergeblich daran gerüttelt.
»Bleib hier, Fuchs«, sagte er.
Aber sie huschte nur wortlos an seine Seite und Jacob zog das Tor hinter sich zu.
8
CLARA
Das erste Zimmer war die Kammer mit dem Ofen, aber Clara zog Will weiter, als er durch die Tür blickte. Der enge Flur roch nach Kuchen und süßen Mandeln, und im nächsten Zimmer hing über einem zerschlissenen Sessel der Schal einer Frau, bestickt mit schwarzen Vögeln.
Das Bett stand im letzten Zimmer. Es war kaum groß genug für sie beide, und die Decken waren mottenzerfressen, aber Will schlief schon, bevor Jacob draußen das Tor hinter sich zuzog. Der Stein maserte ihm den Hals, wie es draußen die Schatten des Waldes getan hatten.
Clara fuhr vorsichtig über das matte Grün. So kühl und glatt. So schön und schrecklich zugleich.
Was würde geschehen, wenn die Beeren nicht wirkten? Sein Bruder wusste die Antwort, aber sie machte ihm Angst, auch wenn er sich sehr gut darauf verstand, das zu verbergen.
Jacob. Will hatte Clara von ihm erzählt, aber er hatte ihr nur ein Foto gezeigt, auf dem sie beide noch Kinder gewesen waren. Jacobs Blick war schon damals so ganz anders als der seines Bruders gewesen. Nichts von Wills Sanftheit war darin zu finden. Nichts von seiner Stille.
Clara löste sich aus Wills Umarmung und deckte ihn mit der Decke der Hexe zu. Eine Motte saß auf seiner Schulter, schwarz wie ein Abdruck der Nacht. Sie flatterte davon, als Clara sich über Will beugte, um ihn zu küssen. Er wachte nicht auf und sie ließ ihn allein und ging nach draußen.
Das kuchenbedeckte Haus, der rote Mond über den Bäumen - alles, was sie sah, schien so unwirklich, dass sie sich wie eine Schlafwandlerin fühlte. Alles, was sie kannte, war fort. Alles, was sie erinnerte, schien verloren. Das einzig Vertraute war Will, aber ihm wuchs das Fremde schon in der Haut.
Die Füchsin war nicht da. Natürlich. Sie war mit Jacob gegangen.
Der Schlüssel lag gleich hinter dem Tor, wie er es versprochen hatte. Clara hob ihn auf und strich über das ziselierte Metall. Die Stimmen der Irrlichter füllten die Luft wie das Summen von Bienen. Ein Rabe krächzte in den Bäumen. Aber Clara horchte auf ein anderes Geräusch: das scharfe Schnippschnapp, das Jacobs Gesicht dunkel vor Sorge gemacht hatte und ihn in den Wald hatte zurückgehen lassen. Wer war es, der da draußen wartete und das Haus einer Kinderfresserin zu einem sicheren Unterschlupf machte?
Schnippschnapp. Da war es wieder. Wie das Schnappen metallischer Zähne. Clara wich von dem Zaun zurück. Lange Schatten wuchsen auf das Haus zu, und sie spürte dieselbe Angst, die sie als Kind gehabt hatte, wenn sie allein zu Hause gewesen war und Schritte im Treppenhaus gehört hatte.
Sie hätte Will doch sagen sollen, was sein Bruder vorhatte. Er würde ihr nie verzeihen, wenn Jacob nicht zurückkam.
Er würde zurückkommen.
Er musste zurückkommen.
Sie würden nie wieder nach Hause finden ohne ihn.
9
DER SCHNEIDER
Kam er ihnen nach? Jacob ging langsam, damit der Jäger, den sie angelockt hatten, ihm folgen konnte. Aber alles, was er hörte, waren seine eigenen Schritte, das Brechen morscher Zweige unter seinen Stiefeln - das Rascheln von Blättern. Wo war er? Jacob hatte schon Angst, dass sein Verfolger die Furcht vor der Hexe vergessen hatte und sich hinter seinem Rücken durch ihr Tor schlich, als zu seiner Linken plötzlich wieder das Schnippen aus dem Wald drang. Offenbar stimmte es, was man erzählte: Der Schneider spielte mit seinen Opfern gern Katz und Maus, bevor er an sein blutiges Handwerk ging.
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