Fuchs wandte sich um.
»Nimm sie mit!«, sagte sie noch einmal. »Dein Bruder wird sie brauchen. Und du auch. Oder traust du meiner Nase nicht mehr?«
Dann verschwand sie in der Nacht, als wäre sie es leid, auf ihn zu warten.
7
DAS HAUS DER HEXE
Ein Dickicht aus Wurzeln, Dornen und Blättern. Baumriesen und junge Bäume, die sich nach dem Licht streckten, das allzu spärlich durch das dichte Laubdach fiel. Irrlichterschwärme über fauligen Tümpeln. Lichtungen, auf denen Fliegenpilze ihre giftigen Kreise zogen. Jacob war zuletzt vor vier Monaten im Schwarzen Wald gewesen, um dort nach einem Menschenschwan zu suchen, der ein Hemd aus Nesseln über den Federn trug. Aber nach drei Tagen hatte er die Suche aufgegeben, weil er unter den dunklen Bäumen nicht mehr hatte atmen können. Sie erreichten den Waldrand erst um die Mittagszeit, weil Will wieder Schmerzen hatte. Der Stein wucherte inzwischen den ganzen Hals hinauf, aber Clara tat, als sähe sie ihn nicht. Liebe macht blind. Sie schien das Sprichwort beweisen zu wollen. Sie wich nicht von Wills Seite und schlang den Arm um ihn, wenn der Stein erneut wuchs und Will sich im Sattel krümmte. Aber wenn sie sich unbeobachtet fühlte, sah Jacob die Angst auch auf ihrem Gesicht. Auf ihre Frage, was er über den Stein wusste, hatte er ihr dieselben Lügen erzählt wie seinem Bruder: dass sich nur Wills Haut änderte und es in dieser Welt ein Leichtes sein würde, ihn zu heilen. Es war nicht schwer gewesen, sie zu überzeugen. Sie glaubten ihm beide allzu gern jede tröstliche Lüge, die er ihnen erzählte.
Clara ritt besser als erwartet. Jacob hatte unterwegs auf einem Markt ein Kleid für sie gekauft, aber sie hatte es ihn gegen Männerkleider eintauschen lassen, nachdem sie vergebens versucht hatte, mit dem weiten Rock auf ihr Pferd zu steigen. Ein Mädchen in Männerkleidern und der Stein auf Wills Haut - Jacob war froh, als sie Dörfer und Straßen hinter sich ließen und unter die Bäume ritten, auch wenn er wusste, was dort auf sie wartete. Rindenbeißer, Pilzler, Fallensteller, Krähenmänner - der Schwarze Wald hatte sehr viele unfreundliche Bewohner, auch wenn die Kaiserin seit Jahren versuchte, ihm seinen Schrecken zu nehmen. Trotz seiner Gefahren gab es einen regen Handel mit den Hörnern, Zähnen und Häuten seiner Bewohner. Jacob hatte nie auf die Art sein Geld verdient, aber es gab viele, die gut davon lebten: fünfzehn Silbertaler für einen Pilzler (zwei Taler Zuschlag, wenn er Fliegenpilz-Gift spuckte), dreißig für einen Rindenbeißer (nicht allzu viel angesichts der Tatsache, dass diese Jagd leicht mit dem Tod endete) und vierzig für einen Krähenmann (der es immerhin nur auf die Augen abgesehen hatte).
Viele Bäume verloren schon ihr Laub, aber das Blätterdach war immer noch so dicht, dass der Tag sich in herbstgeschecktem Zwielicht verlor. Sie mussten die Pferde schon bald führen, weil sie sich immer öfter in dem dichten Unterholz verfingen, und Jacob wies Will und Clara an, die Bäume nicht zu berühren. Aber die schimmernden Perlen, die ein Rindenbeißer als Köder auf der Borke einer Eiche hatte sprießen lassen, ließen Clara seine Warnung vergessen. Jacob konnte ihr den garstigen kleinen Wicht noch gerade rechtzeitig vom Handgelenk pflücken, bevor er ihr in den Ärmel kroch.
»Das hier«, sagte er und hielt Clara den Rindenbeißer so dicht vor die Augen, dass sie die scharfen Zähne über den borkigen Lippen sah, »ist einer der Gründe, warum ihr die Bäume nicht berühren sollt. Sein erster Biss macht dich schwindelig, der zweite lähmt dich, und du bist bei vollem Bewusstsein, wenn seine ganze Sippschaft anfängt, sich an deinem Blut satt zu trinken. Keine sehr angenehme Art zu sterben.«
Siehst du nun ein, dass du sie hättest zurückschicken müssen?
Will las Jacob den Vorwurf vom Gesicht, während er Clara an seine Seite zog. Aber von da an war sie vorsichtig. Als sich das taufeuchte Netz eines Fallenstellers vor ihnen über den Weg spannte, war es Clara, die Will rechtzeitig zurückzerrte, und sie scheuchte die Goldraben fort, die ihnen Flüche in die Ohren krächzen wollten.
Trotzdem. Sie gehörte nicht hierher. Noch weniger als sein Bruder.
Fuchs blickte sich zu ihm um.
Hör auf, warnten ihre Augen. Sie ist hier, und ich sage es dir noch einmal: Er wird sie brauchen.
Fuchs. Sein pelziger Schatten. Die Irrlichter, deren Schwärme überall zwischen den Bäumen hingen, hatten selbst Jacob mit ihrem Summen schon oft hoffnungslos in die Irre gelockt, aber die Füchsin scheuchte sie aus ihrem Fell wie lästige Fliegen und lief unbeirrt voran.
Nach drei Stunden tauchte zwischen Eichen und Eschen der erste Hexenbaum auf, und Jacob warnte Clara und Will gerade vor den Zweigen, die allzu gern nach Menschenaugen stachen, als Fuchs abrupt stehen blieb.
Das Geräusch ertrank fast in dem Summen der Irrlichter. Es klang wie das Schnippschnapp einer Schere. Kein allzu bedrohliches Geräusch. Will und Clara bemerkten es nicht einmal. Aber das Fell der Füchsin sträubte sich und Jacob legte die Hand an den Säbel. Er kannte nur einen Bewohner dieses Waldes, der solch ein Geräusch machte, und es war der einzige, den er auf keinen Fall treffen wollte.
»Lass uns schneller gehen«, flüsterte er Fuchs zu. »Wie weit ist es noch bis zu dem Haus?«
Schnippschnapp. Es kam näher.
»Es wird knapp«, flüsterte Fuchs.
Das Schnippen verstummte, aber die plötzliche Stille klang ebenso bedrohlich. Kein Vogel sang. Selbst die Irrlichter waren verschwunden. Fuchs warf einen besorgten Blick zwischen die Bäume, bevor sie so hastig weiterhuschte, dass die Pferde in dem dichten Unterholz kaum nachkamen.
Der Wald wurde dunkler, und Jacob zog die Taschenlampe aus der Satteltasche, die er aus der anderen Welt mitgebracht hatte. Immer öfter mussten sie einem Hexenbaum ausweichen. Schwarzdorn ersetzte die Eschen und Eichen. Tannen erstickten das spärliche Licht zwischen schwarzgrünen Nadeln, und die Pferde scheuten, sobald sie das Haus sahen, das zwischen den Bäumen auftauchte.
Als Jacob vor Jahren mit Chanute hergekommen war, hatten die Dachschindeln so rot durch die Bäume geleuchtet, als hätte die Hexe sie mit Kirschsaft gefärbt. Jetzt waren sie mit Moos bedeckt, und von den Fenstern blätterte die Farbe, aber an den Mauern und auf dem spitzgiebligen Dach klebten immer noch ein paar Kuchen. Von der Regenrinne und den Fensterbänken hingen Zapfen aus Zuckerguss, und das ganze Haus roch nach Zimt und Honig, wie es sich für eine Kinderfalle gehörte. Die Hexen hatten oft versucht, die Kinderfresserinnen aus ihrer Sippe zu verstoßen, und vor zwei Jahren hatten sie ihnen schließlich den Krieg erklärt. Die Hexe, die im Schwarzen Wald ihr Unwesen getrieben hatte, fristete ihr Dasein angeblich als Warzenkröte in einem morastigen Tümpel.
An dem schmiedeeisernen Zaun, der ihr Haus umgab, klebten immer noch ein paar bunte Zuckerperlen, und Jacobs Stute zitterte, als er sie durch das Tor führte. Der Zaun eines Lebkuchenhauses ließ jeden ein, aber niemanden wieder heraus. Chanute hatte darauf geachtet, dass das Tor bei ihrem Besuch weit offen blieb, doch das, was ihnen folgte, machte Jacob mehr Sorge als das verlassene Haus. Sobald er das Tor hinter Clara schloss, war das Schnippen wieder deutlich zu hören, und diesmal klang es fast zornig. Aber wenigstens kam es nicht näher und Fuchs warf Jacob einen erleichterten Blick zu. Es war, wie sie gehofft hatten: Ihr Verfolger war kein Freund der Hexe gewesen.
»Was, wenn er auf uns wartet?«, flüsterte Fuchs.
Ja, was dann, Jacob? Es war ihm gleich. Solange nur der Busch, den Chanute ihm beschrieben hatte, noch hinter dem Haus wuchs.
Will hatte die Pferde zum Brunnen geführt und ließ den rostigen Eimer hinunter, um sie zu tränken. Er musterte das Lebkuchenhaus wie eine giftige Pflanze. Aber Clara strich über den Zuckerguss, als könnte sie nicht glauben, dass das, was sie sah, wirklich war.
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