Als Jacob aufwachte, konnte er sich nicht erinnern, ob er den Goyl gesagt hatte, was sie wissen wollten. Er war in einer anderen Zelle, durch deren Fenster man den hängenden Palast sah. Sein ganzer Körper schmerzte, als hätte er sich die Haut verbrüht, und sein Waffengürtel war ebenso fort wie alles, was er in den Taschen gehabt hatte, aber zum Glück hatten sie ihm wenigstens das Taschentuch gelassen. Glück, Jacob? Was sollen dir nun ein paar Goldtaler nützen? Goylsoldaten waren berüchtigt für ihre Unbestechlichkeit.
Er schaffte es, auf die Knie zu kommen. Seine Zelle war nur durch ein Gitter von der nächsten getrennt, und als er durch die Stäbe blickte, vergaß er seine Schmerzen.
Will.
Jacob stemmte die Schulter gegen die Wand und schaffte es, sich aufzurichten. Sein Bruder lag da wie tot, aber er atmete, und an Stirn und Wangen waren immer noch Spuren von Menschenhaut zu sehen. Die Rote Fee hatte ihr Versprechen erfüllt und die Zeit angehalten.
Draußen auf dem Korridor näherten sich Schritte, und Jacob wich an das Gitter zurück, hinter dem sein Bruder schlief. Der Jaspisgoyl kam mit zwei Wächtern den Gang hinunter. Hentzau. Inzwischen kannte Jacob seinen Namen - und als er sah, wen sie hinter ihm herzerrten, wollte er den Kopf gegen die Stäbe schlagen.
Er hatte ihnen gesagt, was sie wissen wollten.
Clara hatte eine blutige Schramme auf der Stirn und ihre Augen waren weit vor Angst. Wo ist Fuchs?, wollte Jacob sie fragen, aber sie bemerkte ihn gar nicht. Sie sah nur seinen Bruder.
Hentzau stieß sie zu Will in die Zelle. Clara machte einen Schritt auf ihn zu und blieb wie verloren stehen, als hätte sie sich daran erinnert, dass sie erst vor ein paar Stunden den anderen Bruder geküsst hatte.
»Clara.«
Sie drehte sich zu ihm um. Jacob sah so viel auf ihrem Gesicht: Erschrecken, Sorge, Verzweiflung, ... Scham.
Sie trat zu ihm ans Gitter und strich über die Würgemale an seinem Hals. »Was haben sie mit dir gemacht?«, flüsterte sie.
»Es ist nichts. Wo ist Fuchs?«
»Sie haben sie auch gefangen.«
Sie griff nach seiner Hand, als die Goyl vor den Zellen Haltung annahmen. Selbst Hentzau straffte die Schultern, auch wenn er es deutlich widerstrebend tat, und Jacob wusste sofort, wer die Frau war, die den Gang hinunterkam.
Das Haar der Dunklen Fee war heller als das ihrer Schwester, aber Jacob fragte sich nicht, wie sie zu ihrem Namen kam. Er spürte ihre Dunkelheit wie einen Schatten auf der Haut, doch sein Herz schlug nicht vor Angst schneller.
Du musst sie nicht mehr finden, Jacob. Sie kommt zu dir!
Clara wich zurück, als die Fee in Wills Zelle trat, aber Jacob schloss die Finger um die Gitter, die ihn von ihr trennten. Komm näher! Na, komm schon!, dachte er. Eine Berührung nur und die drei Silben, die ihre Schwester ihm verraten hatte. Doch das Gitter machte die Fee so unerreichbar, als läge sie im Bett ihres königlichen Liebhabers. Ihre Haut schien aus Perlen gemacht, und ihre Schönheit ließ sogar die ihrer Schwester verblassen.
Sie musterte Clara mit der Abneigung, die ihresgleichen für alle Menschenfrauen empfanden.
»Liebst du ihn?« Sie strich Will über das schlafende Gesicht. »Nun sag schon.«
Als Clara zurückwich, wurde ihr eigener Schatten lebendig und legte ihr schwarze Finger um die Knöchel.
»Antworte ihr, Clara«, sagte Jacob.
»Ja!«, stammelte sie. »Ja, ich liebe ihn.«
Ihr Schatten wurde erneut nichts als ein Schatten und die Fee lächelte.
»Gut. Dann willst du doch sicher, dass er aufwacht. Du musst ihn nur küssen.«
Clara blickte sich Hilfe suchend zu Jacob um.
Nein!, wollte er sagen. Tu es nicht! Aber seine Zunge gehorchte ihm nicht mehr. Seine Lippen waren so taub, als hätte die Fee sie ihm versiegelt, und er konnte nur hilflos zusehen, wie sie nach Claras Arm griff und sie sanft an Wills Seite zog.
»Sieh ihn dir an!«, sagte sie. »Wenn du ihn nicht weckst, wird er für immer so daliegen, weder tot noch lebendig, bis selbst die Seele in seinem verwelkten Körper zu Staub geworden ist.«
Clara wollte sich abwenden, aber die Fee hielt sie fest.
»Ist das Liebe?«, hörte Jacob sie flüstern. »Ihn so zu verraten, nur weil seine Haut nicht mehr so weich ist wie deine? Lass ihn gehen.«
Clara hob die Hand und fuhr Will über das versteinerte Gesicht.
Die Fee ließ ihren Arm los und trat mit einem Lächeln zurück.
»Leg all deine Liebe in den Kuss!«, sagte sie. »Du wirst sehen. Sie stirbt nicht so leicht, wie du denkst.«
Und Clara schloss die Augen, als wollte sie Wills versteinertes Gesicht vergessen, und küsste ihn.
39
AUFGEWACHT
Für einen Moment hoffte Jacob wider besseres Wissen, dass es immer noch sein Bruder war, der sich aufsetzte. Aber Claras Gesicht verriet ihm die Wahrheit. Sie wich vor Will zurück, und der Blick, den sie Jacob zuwarf, war so verzweifelt, dass er für einen Augenblick den eigenen Schmerz vergaß. Sein Bruder war fort.
Jede Spur von Menschenhaut war verschwunden. Will war nichts als atmender Stein. Der vertraute Körper in Jade gefasst wie ein totes Insekt in Bernstein.
Goyl.
Will erhob sich von der Bank aus Sandstein, auf der er gelegen hatte, und beachtete weder Jacob noch Clara. Sein Blick suchte nur ein Gesicht: das der Fee, und Jacob fühlte, wie der Schmerz all die schützenden Schichten zerbrach, die er so viele Jahre um sein Herz gelegt hatte. Es war wieder so schutzlos, wie er es als Kind im leeren Zimmer seines Vaters gespürt hatte. Und wie damals gab es keinen Trost. Nur Liebe. Und Schmerz.
»Will?« Clara flüsterte den Namen seines Bruders, als wäre es der eines Toten. Sie machte einen Schritt auf Will zu, aber die Dunkle Fee trat ihr in den Weg.
»Lass ihn gehen«, sagte sie.
Die Wachen öffneten die Zellentür und die Fee zog Will mit sich.
»Komm«, sagte sie zu ihm. »Es wird Zeit aufzuwachen. Du hast viel zu lange geschlafen.«
Clara sah ihnen nach, bis sie auf dem dunklen Korridor verschwunden waren. Dann wandte sie sich zu Jacob um. Vorwürfe, Verzweiflung, Schuld. Sie machten ihre Augen dunkler als die der Fee. Was habe ich getan?, fragten sie. Warum hast du es nicht verhindert? Hattest du nicht versprochen, ihn zu beschützen? Aber vielleicht las er auch nur seine eigenen Gedanken in ihrem Blick.
»Sollen wir den hier erschießen?«, fragte eine der Wachen und wies mit der Flinte auf ihn.
Hentzau zog die Pistole, die sie Jacob abgenommen hatten, aus dem Gürtel. Er öffnete das Kugellager und betrachtete es wie den Kern einer fremden Frucht.
»Das ist eine interessante Pistole. Wo hast du sie her?«
Jacob wandte ihm den Rücken zu. Schieß schon, dachte er.
Die Zelle, der Goyl, der hängende Palast. Alles um ihn herum schien unwirklich. Die Feen und verwunschenen Wälder, die Füchsin, die ein Mädchen war - alles nichts als die Fieberträume eines Zwölfjährigen. Jacob sah sich wieder in der Zimmertür seines Vaters stehen und Will neugierig an ihm vorbeistarren, auf die staubigen Flugzeugmodelle, die alten Revolver. Und den Spiegel.
»Dreh dich um.« Hentzaus Stimme klang ungeduldig. Ihr Zorn war so leicht zu wecken. Er brannte gleich unter ihrer steinernen Haut.
Jacob gehorchte trotzdem nicht. Und hörte den Goyl lachen. »Dieselbe Arroganz.«.
»Dein Bruder sieht ihm nicht ähnlich. Deshalb habe ich erst nicht begriffen, wieso dein Gesicht mir so bekannt vorkam. Du hast dieselben Augen, denselben Mund. Aber dein Vater konnte seine Angst nicht halb so gut verbergen wie du.«
Jacob drehte sich um. Du bist so ein Idiot, Jacob Reckless.
»Die Goyl haben die besseren Ingenieure.« Wie oft hatte er den Satz schon hinter dem Spiegel gehört - ob in Schwanstein oder als Seufzer von Offizieren der Kaiserin - und sich nie etwas dabei gedacht.
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