Orpheus’ rundes Gesicht verfinsterte sich so abrupt, dass Elinor auf der Stelle wusste, dass sie einen bösen Fehler gemacht hatte. Wie hatte sie nur vergessen können, was für ein eitler, aufgeblasener Kerl er war?
»Niemand - «, sagte Orpheus leise, während er sich bedrohlich langsam aus ihrem Sessel erhob, »- niemand muss mir die Kunst des Lesens erklären. Schon gar nicht ein kleines Mädchen!«
Jetzt steckt er dich gleich wieder in den Keller!, dachte Elinor. Was nun? Such, Elinor, such in deinem dummen Kopf nach der richtigen Antwort! Nun mach schon! Irgendetwas wird dir doch wohl einfallen!
»Natürlich nicht!«, stammelte sie. »Keiner außer Ihnen konnte Staubfinger zurücklesen. Keiner. Aber.«
»Kein Aber. Passen Sie auf.« Orpheus stellte sich in Positur, als schickte er sich an, auf einer Bühne eine Arie zu singen, und nahm das Buch aus dem Sessel, das er so achtlos zur Seite gelegt hatte. Er schlug es auf, genau dort, wo das Eselsohr die cremeweiße Seite verunzierte, fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen, als müsste er sie geschmeidig machen, damit die Worte nicht an ihnen kleben blieben - und dann füllte sie wieder Elinors Bibliothek: seine betörende, so gar nicht zu seinem Äußeren passende Stimme. Orpheus las, als ließe er sich seine Lieblingsspeise im Mund zergehen, genüsslich, begierig auf den Klang der Buchstaben, Perlen auf seiner Zunge, Wortsamen, aus denen er das Leben schlüpfen ließ.
Ja, vielleicht war er wirklich der größte Meister seiner Kunst. Weil er sie mit der allergrößten Leidenschaft betrieb.
»Es gibt da eine Geschichte über einen Schäfer, Tudur von Llangollen, der traf eines Tages eine Schar von Feen, die zu der Melodie eines winzigen Fiedlers tanzten.« Ein feiner zirpender Ton erhob sich hinter Elinor, sie sah sich um, aber nichts war zu sehen außer Zucker, der mit perplexem Gesicht Orpheus’ Stimme lauschte. »Tudur versuchte den verzauberten Saiten zu widerstehen, doch schließlich warf er die Mütze in die Luft, rief > Auf geht’s also, spiel schon, du alter Teufel < und schloss sich dem wilden Tanz an.«
Das Geigen wurde schriller und schriller, und als Elinor diesmal heramfuhr, sah sie einen Mann in ihrer Bibliothek stehen, umringt von kleinen, mit Blättern bekleideten Geschöpfen, der sich wie ein Tanzbär auf nackten Füßen drehte, während einen Schritt entfernt ein Winzling mit einer Glockenblüte auf dem Kopf auf einer Fiedel geigte, die kaum größer als eine Eichel war.
»Sofort erschien ein Paar Hörner auf dem Kopf des Fiedlers und ein Schwanz wuchs unter seinem Mantel hervor!« Orpheus ließ seine Stimme anschwellen, bis sie fast einem Singen glich. »Die tanzenden Geister verwandelten sich in Ziegenböcke, Hunde, Katzen und Füchse und sie und Tudur drehten sich im Kreis in Schwindel erregender Tollheit.«
Elinor presste die Hände vor den Mund. Da waren sie, quollen hervor hinter dem Sessel, sprangen über die Bücherstapel, tanzten auf den aufgeschlagenen Seiten mit schmutzigen Hufen. Der Hund sprang auf und bellte sie an.
»Hören Sie auf!«, schrie Elinor Orpheus an. »Hören Sie sofort auf!«
Mit einem triumphierenden Lächeln klappte er das Buch zu.
»Scheuch sie raus in den Garten!«, befahl er dem wie versteinert dastehenden Zucker. Verwirrt tappte er zur Tür, öffnete sie - und ließ die ganze Schar an sich vorbeitanzen, fiedelnd und kreischend, bellend, blökend, Elinors Flur hinunter, vorbei an ihrem Schlafzimmer, bis der Lärm allmählich verklang.
»Niemand«, wiederholte Orpheus, und nicht die Spur eines Lächelns war mehr auf seinem runden Gesicht zu entdecken, »niemand erklärt Orpheus etwas über die Kunst des Lesens. Haben Sie es bemerkt? Es ist niemand verschwunden! Vielleicht ein paar Bücherwürmer, falls es so etwas in Ihrer Bibliothek gibt, vielleicht ein paar Fliegen.«
»Vielleicht ein paar Autofahrer unten auf der Straße«, fügte Elinor mit heiserer Stimme hinzu, aber leider war es nicht zu überhören, dass sie beeindruckt war.
»Vielleicht!«, sagte Orpheus und zuckte lässig die runden Schultern. »An meiner Meisterschaft würde das nichts ändern, oder? Und nun hoffe ich, dass Sie etwas von der Kunst des Kochens verstehen, denn ich bin das, was Zucker zusammenrührt, gründlich leid. Und ich bin hungrig. Ich werde immer hungrig, wenn ich gelesen habe.«
»Kochen?« Elinor erstickte fast an ihrer Wut. »Ich soll Ihre Köchin spielen in meinem eigenen Haus?«
»Nun, aber sicher. Machen Sie sich nützlich. Oder wollen Sie, dass Zucker auf die Idee kommt, dass Sie und unser stotternder Freund ganz überflüssig sind? Er ist ohnehin schon verärgert, weil er bislang nichts Stehlenswertes in Ihrem Haus gefunden hat. Nein, wir sollten ihn wirklich nicht auf dumme Gedanken bringen, nicht wahr?«
Elinor holte tief Atem und versuchte, das Zittern ihrer Knie zu übersehen. »Nein. Nein, das wollen wir nicht«, sagte sie, drehte sich um - und ging in die Küche.
»Und sie legte ihm das Heilkraut in den Mund - er schlief gleich ein. Sie deckte ihn behutsam zu. Er schlief den ganzen Tag hindurch.«
Dieter Kühn, Der Parzival des Wolfram von Eschenbach
Die Höhle war leer bis auf Resa und Mo, als sie kamen, zwei Frauen und vier Männer. Zwei der Männer hatten mit Wolkentänzer am Feuer gesessen: Rußvogel, der Feuerspucker, und der Zweifinger. Sein Gesicht sah bei Tageslicht nicht freundlicher aus, und auch die Übrigen blickten so feindselig drein, dass Resa unwillkürlich näher an Mo heranrückte.
Nur der Rußvogel schien verlegen.
Mo schlief, den unruhigen fiebrigen Schlaf, den er nun schon mehr als einen Tag lang schlief und der die Nessel sorgenvoll den Kopf schütteln ließ. Die sechs blieben nur wenige Schritte entfernt von ihm stehen. Sie versperrten Resa den Blick auf das Tageslicht, das von draußen hereinfiel.
Eine der Frauen trat vor die anderen. Sie war nicht sonderlich alt, aber ihre Finger waren verkrümmt wie die Klauen eines Vogels. »Er muss fort!«, sagte sie. »Heute noch. Er ist keiner von uns, ebenso wenig wie du.«
»Wie meinst du das?« Resas Stimme zitterte, sosehr sie sich auch bemühte, ruhig zu klingen. »Er kann nicht fort. Er ist noch zu schwach.«
Wenn doch nur die Nessel da gewesen wäre! Aber sie war fort, hatte irgendetwas von kranken Kindern gemurmelt - und einem Kraut, dessen Wurzel das Fieber vielleicht vertreiben würde. Vor der Nessel hätten die sechs Angst gehabt, Angst, Respekt, Scheu, während sie selbst für die Spielleute nur eine Fremde war, irgendeine verzweifelte Fremde mit einem todkranken Mann - auch wenn keiner hier ahnte, wie fremd sie in dieser Welt waren.
»Die Kinder. du musst uns verstehen!« Die andere Frau war noch sehr jung, und sie war schwanger. Schützend hatte sie eine Hand auf den Bauch gelegt. »Einer wie er bringt unsere Kinder in Gefahr, und Martha hat Recht, ihr gehört nicht mal zu uns. Dies ist der einzige Platz, an dem man uns bleiben lässt. Keiner jagt uns hier fort, doch wenn sie hören, dass der Eichelhäher hier ist, ist das vorbei. Sie werden sagen, dass wir ihn versteckt haben.«
»Aber er ist nicht der Eichelhäher! Ich hab es euch doch schon gesagt. Und wer sind >sie