Staubfinger machte einen Schritt vor - und zwei zurück. Dreimal schon hatte er umdrehen wollen, sich wieder davonschleichen, so lautlos, wie er gekommen war, und war doch geblieben. Ein Wind fuhr durch die Ginsterbüsche, stieß ihn in den Rücken, als wollte er ihm Mut machen, und Staubfinger fasste sich ein Herz, schob die Zweige auseinander und schritt auf das Haus und die Felder zu.
Der Junge sah ihn zuerst, und aus dem hohen Gras neben dem Stall erhob sich eine Gans und kam schnatternd und flügelschlagend auf ihn zu. Kein Bauer durfte einen Hund halten, das war den Fürsten vorbehalten, aber auch eine Gans war ein zuverlässiger Wächter - und nicht weniger Furcht einflößend. Staubfinger jedoch wusste dem aufgesperrten Schnabel auszuweichen und strich der aufgebrachten Wächterin über den weißen Hals, bis sie die Flügel zusammenlegte wie ein frisch gebügeltes Kleid und friedlich davonstakste, zurück zu ihrem Platz im Gras.
Roxane hatte sich aufgerichtet. An ihrem Kleid wischte sie sich die Erde von den Händen und sah ihn an, sah ihn nur an. Sie hatte ihr Haar tatsächlich hochgesteckt wie eine Bauersfrau, doch offenbar war es immer noch so lang und voll wie früher und ebenso schwarz, bis auf ein paar graue Strähnen. Ihr Kleid war braun wie die Erde, auf der sie gekniet hatte, nicht länger bunt wie die Röcke, die sie früher getragen hatte. Ihr Gesicht jedoch war Staubfinger immer noch so vertraut wie der Anblick des Himmels, vertrauter als sein eigenes Spiegelbild.
Der Junge griff nach der Harke, die neben ihm auf der Erde lag. Er hielt sie mit so finster entschlossener Miene, als wäre er es gewohnt, seine Mutter gegen seltsame Fremde zu beschützen. Kluger Junge, dachte Staubfinger, traut keinem, schon gar nicht so einem Narbengesicht, das plötzlich aus den Büschen auftaucht.
Was sollte er nur sagen, wenn sie ihn fragte, wo er gewesen war?
Roxane raunte dem Jungen etwas zu, und er ließ zögernd die Harke sinken, die Augen immer noch misstrauisch.
Zehn Jahre.
Er war oft lange fort gewesen, im Wald, in den Orten an der Küste, unterwegs zwischen den Dörfern, die ringsum einsam in den Hügeln lagen - wie ein Fuchs, der nur auf den Höfen der Menschen auftauchte, weil ihm der Magen knurrte. »Dein Herz ist ein Streuner«, hatte Roxane immer gesagt. Manchmal hatte er sie suchen müssen, wenn sie mit den anderen Spielleuten weitergezogen war. Eine Weile lebten sie zusammen im Wald, in einer verlassenen Köhlerhütte, dann wieder in einem Zelt, umgeben von anderen Spielleuten. Einen Winter lang hatten sie es sogar zwischen den festen Mauern von Ombra ausgehalten. Es war immer er gewesen, der weiterwollte, und als ihre erste Tochter geboren wurde und Roxa-ne immer öfter bleiben wollte - an irgendeinem halbwegs vertrauten Ort, bei den anderen Spielfrauen, in der Nähe schützender Mauern -, war er allein fortgegangen. Aber er war stets zurückgekehrt, zu ihr und zu den Kindern, sehr zum Ärger all der reichen Männer, die um sie herumgestrichen waren, um eine ehrbare Frau aus ihr zu machen.
Was hatte sie gedacht, als er ganze zehn Jahre fortblieb? Hatte sie ihn für tot gehalten, wie Wolkentänzer? Oder hatte sie geglaubt, dass er einfach fortgegangen war, ohne ein Wort, ohne Abschied?
In Roxanes Gesicht fand er die Antwort nicht. Fassungslosigkeit sah er darauf, Zorn, vielleicht auch Liebe. Vielleicht. Sie flüsterte dem Jungen etwas zu, griff nach seiner Hand und zog ihn mit sich. Sie ging langsam, als hielte sie ihre Füße davon ab, schneller zu laufen. Er wäre zu gern auf sie zugelaufen, mit jedem Schritt eins der Jahre hinter sich lassend, aber sein Mut war aufgebraucht. Wie angewachsen stand er da und sah ihr entgegen, wie sie auf ihn zukam, nach all den Jahren, all den Jahren, für die er keine Erklärung hatte - außer einer, die sie nicht glauben würde.
Es trennten sie nicht mehr viele Schritte, als Roxane stehen blieb. Sie legte den Arm um die Schulter des Jungen, aber der schob ihn weg. Natürlich. Er wollte nicht, dass der Arm seiner Mutter ihn daran erinnerte, wie jung er noch war.
Wie sie das Kinn vorschob, so stolz. Das war das Erste, was ihm an Roxane gefallen hatte - ihr Stolz. Er musste lächeln, aber er senkte den Kopf, damit sie es nicht sah.
»Offenbar kann dir immer noch kein Tier widerstehen. Meine Gans hat bisher jeden verjagt.« Wenn Roxane sprach, war nichts Besonderes an ihrer Stimme, nichts von der Kraft und Schönheit, die sie beim Singen entfaltete.
»Ja, daran hat sich nichts geändert«, sagte er. »In all den Jahren nicht.« Und plötzlich, während er sie ansah, hatte er endlich und ganz wirklich das Gefühl, heimgekehrt zu sein. Das Gefühl war so stark, dass ihm die Knie weich wurden. Wie glücklich er war, sie wiederzusehen, so furchtbar, entsetzlich glücklich. Frag mich!, dachte er. Frag mich, wo ich war. Obwohl er nicht wusste, wie er es erklären sollte.
Aber sie sagte nur: »Es scheint dir gut gegangen zu sein, dort, wo du warst.«
»Das täuscht«, erwiderte er. »Ich bin nicht freiwillig dort geblieben.«
Roxane musterte sein Gesicht, als hätte sie vergessen, wie es aussah, und strich dem Jungen übers Haar. Es war ebenso schwarz wie ihres, aber seine Augen waren die eines anderen. Abweisend blickten sie ihn an.
Staubfinger rieb die Hände aneinander und flüsterte seinen Fingern Feuerworte zu, bis Funken zwischen ihnen hervorrieselten wie Regen. Dort, wo sie auf den steinigen Boden trafen, sprossen Blumen, rote Blumen, jedes Blütenblatt eine Flammenzunge.
Der Junge starrte sie an mit einer Mischung aus Entzücken und Furcht. Schließlich hockte er sich neben sie und streckte die Hand nach den feurigen Blüten aus.
»Vorsicht!«, warnte Staubfinger, aber es war schon zu spät.
Verlegen schob der Junge sich die verbrannten Fingerspitzen in den Mund.
»Das Feuer gehorcht dir also auch noch«, sagte Roxane, und zum ersten Mal entdeckte er fast so etwas wie ein Lächeln in ihren Augen. »Du siehst hungrig aus. Komm.« Und ohne ein Wort ging sie auf das Haus zu. Der Junge starrte immer noch die Feuerblumen an.
»Ich habe gehört, du baust Kräuter an für die Heiler.« Staubfinger blieb unschlüssig in der Tür stehen.
»Ja. Selbst die Nessel kauft bei mir.«
Die Nessel, klein wie ein Moosweibchen, stets mürrisch und wortfaul wie ein Bettler, dem man die Zunge herausgeschnitten hatte. Aber es gab keine bessere Heilerin in dieser Welt.
»Wohnt sie immer noch in der alten Bärenhöhle am Waldrand?« Staubfinger schob sich zögernd durch die Tür. Sie war so niedrig, dass er den Kopf einziehen musste. Der Duft von frischem Brot stieg ihm in die Nase.
Roxane legte einen Laib auf den Tisch, holte Käse, Öl, Oliven. »Ja, aber sie ist selten dort. Sie wird immer wunderlicher, läuft im Wald umher, redet mit den Bäumen und sich selbst, sucht Pflanzen, die sie noch nicht kennt. Manchmal taucht sie wochenlang nicht auf, also kommen die Leute immer öfter zu mir. Die Nessel hat mir einiges beigebracht in den letzten Jahren.« Sie sah ihn nicht an, während sie das sagte. »Sie hat mir gezeigt, wie ich Kräuter auf den Feldern ziehen kann, die sonst nur im Wald gedeihen. Schmetterlingsklee, Schellenblatt, die roten Anemonen, aus deren Blüten die Feuerelfen ihren Honig machen.«
»Ich wusste gar nicht, dass man diese Anemonen auch zum Heilen benutzt.«
»Das tut man auch nicht. Ich habe sie gepflanzt, weil sie mich an jemanden erinnerten.« Diesmal sah sie ihn an.
Staubfinger streckte die Hand aus nach einem der Kräuterbüschel, die von der Decke hingen, und zerrieb die trockenen Knospen zwischen den Fingern: Lavendelblüten, Versteck für Vipern und hilfreich, wenn sie einen bissen. »Vermutlich wachsen die Kräuter nur hier, weil du für sie singst«, sagte er. »Haben sie das nicht früher immer gesagt: Wenn Roxane singt, blühen selbst die Steine?«
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