»Einhörner sind Kreaturen des Mondes«, erklärte der Mann in Schwarz. »Ich habe noch nie eines gesehen. Aber der Überlieferung zufolge dienen sie der Mondfrau und tun, was sie ihnen sagt. Morgen abend erreichen wir die Berge. Heute machen wir bei Sonnenuntergang Pause. Wenn du willst, kannst du in der Kutsche schlafen; ich lege mich neben das Feuer.« Zwar änderte sich seine Stimme nicht im mindesten, aber Tristran wußte mit einer Sicherheit, die unerwartet und erschreckend deutlich war, daß dieser Mann Angst hatte, daß er sich fürchtete bis in die tiefsten Tiefen seiner Seele.
In der Nacht zuckte Wetterleuchten über den Berggipfeln. Tristran schlief auf der Lederbank in der Kutsche, den Kopf auf einem Hafersack; er träumte von Geistern, von der Mondfrau und den Sternen.
Als der Morgen graute, begann es zu regnen, abrupt und wie aus Kübeln. Niedrige graue Wolken verbargen das Gebirge vor ihren Blicken. Im strömenden Regen spannten Tristran und der Mann in Schwarz die Pferde an und fuhren los. Nun führte der Weg steil bergauf, und die Pferde mußten im Schritt gehen.
»Du kannst dich in die Kutsche setzen«, sagte der Mann. »Es hat keinen Sinn, daß wir beide naß werden.« Sie hatten sich das Ölzeug übergezogen, das unter dem Kutschbock verstaut gewesen war.
»Um noch nasser zu werden«, entgegnete Tristran, »müßte ich gerade in einen Fluß springen. Ich bleibe hier. Zwei Paar Augen und zwei Paar Hände sind besser, falls wir in Gefahr geraten.«
Sein Begleiter grunzte. Dann wischte er sich mit seiner kalten nassen Hand den Regen aus Augen und Mund und sagte: »Du bist töricht, Junge. Aber ich weiß es zu schätzen.« Damit nahm er die Zügel in die linke Hand und streckte Tristran die rechte entgegen. »Man nennt mich Primus. Lord Primus.«
»Tristran. Tristran Thorn«, gab Tristran zurück in dem Gefühl, daß der Mann es irgendwie verdient hatte, seinen richtigen Namen zu erfahren.
Sie schüttelten einander die Hand. Der Regen wurde noch stärker. Während sich der Weg zusehends in einen Sturzbach verwandelte, wurden die Pferde immer langsamer, und der Regen verschlechterte die Sicht ebenso effektiv wie der dichteste Nebel.
»Es gibt da einen Mann«, sagte Lord Primus, besser gesagt schrie er, um trotz des prasselnden Regens und des Windes, der ihm die Worte von den Lippen fegte, gehört zu werden. »Er ist groß, sieht mir ein bißchen ähnlich, nur ist er dünner, mehr wie eine Krähe. Seine Augen sehen unschuldig und ausdruckslos aus, aber in Wirklichkeit schlummert der Tod in ihnen. Er nennt sich Septimus, denn er war der siebente Knabe, den mein Vater gezeugt hat. Falls du ihn je zu Gesicht bekommst, dann lauf weg, so schnell du kannst, und versteck dich vor ihm. Zwar ist er nur hinter mir her, aber er wird dich ohne Zögern töten, wenn du ihm im Weg stehst, oder er wird dich vielleicht zu seinem Handlanger machen, um mich zu töten.«
Ein heftiger Windstoß peitschte einen Schwall Regenwasser in Tristrans Kragen und seinen Nacken.
»Das klingt, als wäre er ein sehr gefährlicher Mann«, sagte Tristran.
»Er ist der gefährlichste Mann, dem du jemals begegnen könntest.«
Schweigend spähte Tristran in den Regen und die hereinbrechende Dunkelheit. Es wurde immer schwerer, den Weg zu erkennen. »Wenn du mich fragst, hat dieser Sturm etwas Unnatürliches«, stellte Primus fest.
»Etwas Unnatürliches?«
»Oder etwas mehr als Natürliches, etwas Übernatürliches, wenn du so willst. Hoffentlich gibt es irgendwo ein Gasthaus am Weg. Die Pferde müssen sich ausruhen, und mir wäre ein Bett und ein warmes Feuer auch nicht unlieb – und eine gute Mahlzeit.«
Tristran brachte seine uneingeschränkte Zustimmung zum Ausdruck. Er dachte an den Stern und das Einhorn. Bestimmt war dem Mädchen jetzt kalt, und es war naß. Er machte sich Sorgen um sein gebrochenes Bein und dachte, daß es mittlerweile bestimmt kaum mehr reiten konnte. Und das alles war seine Schuld. Er fühlte sich elend.
»Ich bin der elendste Mensch, der je gelebt hat«, sagte er zu Lord Primus, als sie anhielten, um den Pferden Futtersäcke mit nassem Hafer zu geben.
»Du bist jung und verliebt«, entgegnete Primus. »Jeder junge Mann in deiner Lage ist der elendste junge Mann, der je gelebt hat.«
Tristran fragte sich, wie Lord Primus die Existenz von Victoria Forester erraten hatte. Dann stellte er sich vor, wie er ihr von seinen Abenteuern berichtete, zu Hause in Wall, vor einem knisternden Kaminfeuer im Salon; aber irgendwie kamen ihm all seine Geschichten langweilig vor.
Die Dunkelheit schien an diesem Tag schon mit dem Morgen hereinzubrechen, und inzwischen war der Himmel beinahe schwarz. Noch immer stieg der Weg stetig an. Gelegentlich ließ der Regen für ein paar Augenblicke nach, dann setzte er wieder ein, stärker als je zuvor.
»Ist das ein Licht dort drüben?« fragte Tristran.
»Ich sehe nichts. Vielleicht eine optische Täuschung, vielleicht ein Blitz…«, meinte Primus. Doch als sie zur nächsten Wegbiegung kamen, korrigierte er sich. »Ich habe mich getäuscht, da ist tatsächlich ein Feuer. Sehr aufmerksam von dir, Junge. Aber es gibt böse Wesen in diesen Bergen, und wir können nur hoffen, daß diese dort uns freundlich gesinnt sind.«
Nun, da die Pferde ein Ziel vor Augen hatten, schöpften sie neue Kraft und preschten voran. Ein Blitz erleuchtete die Berge, die zu beiden Seiten aufragten.
»Wir haben Glück!« rief Primus, und seine tiefe Stimme dröhnte wie der Donner. »Da ist ein Gasthaus!«
KAPITEL 7
Im Gasthaus »Zum Zweispänner«
Die Sternfrau war durchnäßt bis auf die Haut, als sie am Paß eintraf, sie fror erbärmlich und fühlte eine große Traurigkeit. Außerdem machte sie sich Sorgen um das Einhorn; am letzten Tag ihrer Reise hatten sie kein Futter für das Tier gefunden, denn das Gras und die Farne des Waldes waren grauem Fels und verkrüppelten Dornbüschen gewichen. Die unbeschlagenen Hufe des Einhorns waren nicht für die steinige Straße gemacht, und das Tier war auch nicht gewohnt, Reiter zu tragen. So wurde sein Schritt langsam und immer langsamer.
Während sie sich mühsam vorwärts quälten, verfluchte das Sternmädchen den Tag, an dem es auf diese nasse, unfreundliche Erde gefallen war. Vom Himmel aus hatte alles so sanft und einladend gewirkt. Aber das war lange her. Jetzt haßte es alles außer dem Einhorn; doch wundgeritten, wie es war, hätte es sich gern auch von ihm eine Weile getrennt.
Nach einem ganzen Tag im strömenden Regen waren die Lichter des Gasthauses das Freundlichste, was es gesehen hatte, seit es auf die Erde gefallen war. »Paß auf, paß auf«, trommelten die Regentropfen auf dem Stein. Fünfzig Schritte vor dem Gasthaus blieb das Einhorn stehen und weigerte sich weiterzugehen. Die Tür stand offen, und warmes gelbes Licht flutete in die graue Welt hinaus.
»Hallo, Schätzchen«, rief eine freundliche Stimme.
Die Sternfrau streichelte den nassen Hals des Einhorns und redete ihm gut zu, aber es rührte sich nicht, sondern stand wie versteinert im Licht des Gasthauses.
»Nun, kommst du rein, Schätzchen? Oder wollt ihr im Regen bleiben?« Beim freundlichen Klang der Stimme wurde der Sternfrau warm ums Herz, und sie fühlte sich getröstet; die Stimme vermittelte genau die richtige Mischung aus Tatkraft und Fürsorge. »Wir können dir was zu essen machen, wenn du hungrig bist. Im Kamin brennt ein schönes Feuer, und wir haben genügend heißes Wasser, daß du dir die kalten Knochen wärmen kannst.«
»Ich… ich brauche Hilfe…«, stammelte das Mädchen. »Mein Bein…«
»Ach, armes Dingelchen«, rief die Frau. »Ich hole Billy, meinen Mann, der kann dich reintragen. Im Stall gibt es Heu und frisches Wasser für dein Reittier.«
Das Einhorn blickte wild um sich, als die Frau sich näherte. »Nun, nun, Schätzchen. Ich komm’ dir schon nicht zu nahe. Schließlich ist’s lange her, daß ich jungfräulich genug war, um ein Einhorn anzufassen, und man hat in dieser Gegend auch schon lange keines mehr zu Gesicht bekommen…«
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