Hohe Farne, Ulmen und Fingerhut wucherten hier in Massen; am Himmel war inzwischen der Mond untergegangen. Er hob die Kerze und sah sich nach einer Sternschnuppe um, vielleicht sah sie ja aus wie ein Felsen oder ein Edelstein, aber er konnte nichts dergleichen entdecken.
Da hörte er etwas zwischen dem Plätschern, ein Schniefen und angestrengtes Schlucken. Ein Geräusch, als ob jemand das Weinen unterdrückt.
»Hallo?« rief Tristran.
Das Schniefen verstummte. Doch Tristran war sicher, daß er ein Licht unter dem Haselnußbusch sah, und ging darauf zu.
»Entschuldigung«, sagte er, in der Hoffnung, das, was da unter dem Busch saß, wohlwollend zu stimmen. Wenn es nur nicht wieder die kleinen Leute waren, die seinen Hut gestohlen hatten! »Ich suche einen Stern.«
Als Antwort flog ein Klumpen feuchte Erde unter dem Busch hervor und klatschte Tristran mitten ins Gesicht. Es piekte ein bißchen, Krümel rutschten in seinen Kragen und unter seine Kleider.
»Ich tu’ dir nichts«, versprach er laut.
Als der nächste Dreckklumpen auf ihn zuflog, duckte er sich, und das Wurfgeschoß traf eine Ulme hinter ihm. Er machte einen Schritt nach vorn.
»Geh weg«, sagte eine Stimme, heiser und erstickt, als hätte ihre Besitzerin gerade geweint, »geh weg und laß mich in Ruhe.«
Eine weibliche Gestalt kauerte in einer äußerst unbequemen Stellung unter dem Busch und blickte unfreundlich zu Tristran empor. Drohend zielte sie mit einem weiteren Dreckklumpen auf ihn, warf aber nicht.
Ihre Augen waren rot und entzündet, ihr Haar hell, fast weiß, ihr Kleid aus blauer Seide, die im Kerzenlicht schimmerte. Sie glitzerte am ganzen Körper. »Bitte bewirf mich nicht mehr«, bat Tristran. »Hör zu, ich wollte dich nicht belästigen. Es ist nur so, daß hier irgendwo ein Stern herumliegt, und ich muß ihn finden, ehe meine Kerze erlischt.«
»Ich hab’ mir das Bein gebrochen«, erklärte die junge Frau.
»Das tut mir natürlich leid«, erwiderte Tristran. »Aber ich brauche den Stern.«
»Ich hab’ mir das Bein gebrochen«, wiederholte sie traurig, »als ich runtergefallen bin.« Und damit schleuderte sie den Klumpen auf Tristran. Glitzerstaub fiel von ihren Armen, als sie sich bewegte.
Der Klumpen traf Tristran auf die Brust.
»Geh weg«, schluchzte das Mädchen und verbarg das Gesicht in den Armen. »Geh weg und laß mich in Ruhe.«
»Du bist der Stern«, sagte Tristran, dem allmählich ein Licht aufging.
»Und du bist ein Dummkopf«, entgegnete sie bitter, »und ein Trottel, ein Einfaltspinsel, ein Esel und ein Narr.«
»Ja«, sagte Tristran kleinlaut, »vermutlich hast du recht.« Er wickelte das lose Ende der Silberkette ab und ließ es über das schlanke Handgelenk des Mädchens gleiten. Dabei spürte er, daß sich die Schlaufe der Kette, die sein eigenes Handgelenk umschloß, fester zuzog.
Zornig blickte sie zu ihm empor. »Was machst du denn da?« fragte sie mit einer Stimme, aus der plötzlich jede Empörung, jeder Haß gewichen war.
»Ich nehme dich mit nach Hause«, antwortete Tristran. »Ich habe nämlich ein Versprechen abgelegt.«
Da begann der Kerzenstummel zu zischen, und der letzte Rest Docht schwamm in einem See aus Wachs. Einen Augenblick loderte die Flamme hoch auf, tauchte das Tal, das Mädchen und die Kette, die von ihrem Handgelenk zu Tristrans lief, in helles Licht.
Dann erlosch die Kerze.
Tristran starrte den Stern – das Mädchen – an und schaffte es nur mit größter Anstrengung, nichts weiter zu ihm zu sagen.
Komm ich dort hin bei Kerzenschein? dachte er. Ja, selbst zurück kannst du gehn. Aber der Kerzenschein war nicht mehr da, und er würde sechs Monate brauchen, um nach einer noch dazu beschwerlichen Reise das Dorf Wall wieder zu erreichen.
»Ich möchte dir nur sagen«, erklärte das Mädchen kühl, »daß ich dir, ganz gleich, wer du bist und was du mit mir vorhast, in keiner Weise helfen oder dich unterstützen werde – im Gegenteil: Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um deine Pläne zu vereiteln.« Nach einer kurzen Pause fügte es aus tiefstem Herzen hinzu: »Idiot!«
»Hmm«, brummte Tristran nachdenklich. »Kannst du laufen?«
»Nein«, antwortete es. »Mein Bein ist gebrochen. Bist du auch noch taub, nicht nur dumm?«
»Schlafen Sterne manchmal?« fragte er.
»Selbstverständlich. Aber nicht nachts. Da scheinen wir.«
»Nun, ich werde jetzt erst einmal ein bißchen schlafen«, sagte er. »Ich weiß sonst nichts zu tun. Es war ein langer Tag für mich, und ein ziemlich ereignisreicher obendrein. Vielleicht solltest du dich auch ausruhen. Wir haben einen weiten Weg vor uns.«
Inzwischen begann der Morgen zu dämmern. Tristran legte den Kopf auf seine Ledertasche und bemühte sich, die Beleidigungen und Beschimpfungen des Mädchens im blauen Kleid am Ende der Silberkette zu überhören.
Er überlegte, was der kleine haarige Mann tun würde, wenn Tristran nicht zurückkehrte.
Er dachte darüber nach, was Victoria Forester wohl gerade machte, und kam zu dem Schluß, daß sie wahrscheinlich in ihrem Zimmer im Haus ihres Vaters in ihrem Bett lag und schlief.
Er überlegte, daß sechs Monate eine lange Reise waren, und fragte sich, was sie unterwegs essen sollten.
Und womit Sterne sich ernährten…
Dann war er eingeschlafen.
»Schwachkopf, Doofbirne, Blödian«, sagte die Sternfrau.
Dann seufzte sie und machte es sich so bequem wie unter den gegebenen Umständen eben möglich. Der Schmerz in ihrem Bein war dumpf, aber beständig. Vorsichtig untersuchte sie die Kette, aber die war fest und eng und ließ sich weder abstreifen noch zerreißen. »Dämlicher verlauster Hornochse«, knurrte sie.
Und dann schlief sie ebenfalls ein.
KAPITEL 5
In dem heftig um die Krone gekämpft wird
Im hellen Morgenlicht wirkte die junge Frau menschlicher und weniger ätherisch. Seit Tristran aufgewacht war, hatte sie jedoch noch kein Wort gesprochen.
Er nahm sein Messer und schnitt aus einem herabgefallenen Ast eine Y-förmige Krücke zurecht, während das Mädchen unter einer Platane saß und ihn von dort aus mit grimmigen Blicken bedachte. Er schälte die Rinde von einem grünen Zweig und wickelte sie um die Gabel des Y.
Sie hatten noch nicht gefrühstückt, und Tristran hatte einen Bärenhunger; sein Magen knurrte laut bei der Arbeit. Das Sternmädchen äußerte sich nicht dazu, ob sie etwas essen wolle. Sie starrte ihn nur an, erst vorwurfsvoll, dann mit unverhohlenem Haß.
Tristran zog die Rinde fest, fädelte das Ende unter der letzten Lage durch und straffte das Band erneut. »Ich meine das wirklich nicht persönlich«, sagte er zu der jungen Frau und zu dem Wäldchen, in dem sie sich befanden. Unter den Sonnenstrahlen glitzerte sie kaum noch, außer an den Stellen, die ganz im Schatten lagen.
Das Sternmädchen fuhr mit einem bleichen Finger über die Silberkette, mit der sie an Tristran gefesselt war, strich auf und ab, um ihr Handgelenk herum, antwortete aber nichts.
»Ich habe das aus Liebe getan«, fuhr Tristran fort. »Und du bist meine einzige Hoffnung. Ihr Name – ich meine, der Name meiner Liebsten – ist Victoria Forester. Und sie ist das hübscheste, klügste und süßeste Mädchen auf der ganzen weiten Welt.«
Nun brach die junge Frau doch ihr Schweigen – mit einem verächtlichen Schnauben sagte sie: »Und dieses kluge, süße Wesen hat dich hierhergeschickt, um mich zu quälen?«
»Nun, so kann man es nicht sagen. Weißt du, sie hat mir alles versprochen, was ich mir wünsche – sei es, daß ich sie heiraten könne oder sie küssen dürfe –, wenn ich ihr den Stern bringe, der in der besagten Nacht vom Himmel gefallen ist. Ich dachte«, gestand er, »eine Sternschnuppe würde wahrscheinlich aussehen wie ein Diamant oder ein Stein. Eine junge Frau wie dich habe ich ganz und gar nicht erwartet.«
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